08.11.2023

Beitragsreihe Methoden der Nachhaltigkeitsbewertung: Zukunftsorientierte LCA in der Energiesystembewertung

Ein effizienter und nachhaltiger Umgang mit Ressourcen sowie Wege zur Erreichung von Klimaneutralität sind zentrale Themen der FfE. Nicht zuletzt durch die Sustainable Finance Strategie der EU gewinnen Methoden der Nachhaltigkeitsbewertung an Relevanz. In der folgenden Beitragsreihe werden Bestandteile und Kriterien der Nachhaltigkeitsbewertung vorgestellt. Der Fokus liegt auf verfügbaren Methoden, deren Einsatzgebiet und Unterschiede. Dies ist der dritte Beitrag der folgenden Themen, welche nun sukzessive auf unserer Website erscheinen.

Zukunftsorientierte Ökobilanzierung – Um was geht es?

Unter dem Begriff „Ökobilanz“ (engl. Life Cycle Assessment: LCA) wird die Bewertung der Umweltwirkungen eines Produktes, eines Prozesses oder einer Dienstleistung über den gesamten Lebensweg – von der Rohstoffgewinnung bis hin zur Entsorgung – verstanden. Wie eine LCA durchgeführt wird, ist detailliert im ersten Teil der Beitragsreihe beschrieben. Klassische LCAs beziehen sich häufig auf bestehende Produkte. Sie verwenden Daten aus der Vergangenheit oder Gegenwart. Um möglichst umweltfreundliche Entscheidungen für die Zukunft zu treffen, reicht dieser Blick allerdings nicht aus. Es müssen auch zukünftige Produkte und Entwicklungen berücksichtigt werden.

In Abhängigkeit vom Untersuchungsgegenstand einer zukunftsorientierten LCA wird die genaue Methode etwas anders definiert: Laut Arvidsson et al. 2018 gilt eine LCA als prospektiv, wenn sich die untersuchte (aufkommende) Technologie in einer frühen Entwicklungsphase befindet […], aber die Technologie in einer zukünftigen, weiter entwickelten Phase modelliert wird [1]. Guinée et al. werten verschiedene Definitionen im Bereich der Ökobilanzierung aus: Sie bezeichnen prospektive LCAs als Ermittlung künftiger Umweltauswirkungen über den gesamten Lebenszyklus anhand von Szenarien [2]. Für diesen Artikel sprechen wir im Folgenden von zukunftsorientierten Ökobilanzen und schließen dafür alle Ökobilanzen ein, die die zukünftigen Umweltwirkungen berücksichtigen.

Unterschiede zwischen klassischen und zukunftsorientierten Ökobilanzen

Abbildung 1 zeigt die wichtigsten Unterschiede in der Durchführung zwischen klassischer und zukunftsorientierter LCA. Im Vordergrundsystem werden Primärdaten verwendet. Wird beispielsweise die Ökobilanz eines Elektroautos modelliert, fließen in das Vordergrundsystem alle Informationen über die Materialien für den Bau des Fahrzeugs, den Bau der Batterie oder den Energieverbrauch während der Fahrt ein. Die Daten des Vordergrundsystems beziehen sich auf den betrachteten Zeitpunkt und werden für die Zukunft an zukünftige Entwicklungen angepasst. So kann beispielsweise eine zukünftige Effizienzsteigerung des Autos oder die Verwendung anderer, neuer Materialien für die Herstellung der Batterie berücksichtigt werden.

Für das Hintergrundsystem werden Sekundärdaten aus LCA-Datenbanken, wie beispielsweise ecoinvent [3] verwendet. Diese beinhalten beispielsweise Umweltwirkungen für die Herstellung eines Materials, den Transport von Gütern oder die Bereitstellung von Strom für das Laden des Elektroautos. Auch die Datensätze aus solchen LCA-Datenbanken müssen angepasst werden, um zukünftige Entwicklungen abzubilden.

Anschließend kann die Ökobilanz durch eine Verknüpfung von Vorder- und Hintergrundsystem modelliert und ausgewertet werden. Bei der Interpretation der Ergebnisse von prospektiven LCAs ist zu beachten, dass sich die Unsicherheit der Ergebnisse erhöht.

Abbildung 1 Unterschiede zwischen der klassischen und der prospektiven Ökobilanz

Anpassung von Hintergrunddaten an zukünftige Entwicklungen

In der ecoinvent-Datenbank sind mehr als 18.000 Datensätze enthalten. Diese müssen für prospektive LCAs alle an zukünftige Entwicklungen angepasst werden. Dies kann beispielsweise mit dem Tool premise [4] erfolgen. Das grundsätzliche Vorgehen ist in Abbildung 2 dargestellt.

Abbildung 2: Übersicht premise; Tool zur Anpassung der Hintergrunddatenbank ecoinvent, eigene Darstellung nach [4]

Zu Beginn müssen Annahmen getroffen werden: Zum einen muss eins der fünf sogenannten „Shared Socio-economic Pathways (SSPs)“ gewählt werden, welche grundsätzliche Entwicklungen der Gesellschaft festlegen. Außerdem müssen Pfade für die Entwicklung der Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre (Representative Concentration Pathway; RCP) gewählt werden. Diese legen z. B. fest, ob im betrachteten Klimaszenario der Anstieg der Temperatur unter 1,5 °C liegt oder die Klimaziele nicht eingehalten werden. Mithilfe eines IAMs wird Wissen aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen kombiniert, um den Klimawandel zu verstehen, Unsicherheiten zu quantifizieren und politische Optionen zu bewerten. Dabei werden die Annahmen aus die SSPs und RCPs verwendet. Es werden beispielsweise globale Ausbauraten von Erneuerbaren Energien, die Förderung von fossilen Kraftstoffen oder die weltweiten Treibhausgasemissionen (THG-Emissionen) berechnet.

Die Ergebnisse des IAM werden verwendet, um die ecoinvent-Datenbank anzupassen. Dabei werden die Prozesse in ecoinvent basierend auf den Ergebnissen des IAM und anderen Annahmen angepasst. Beispielsweise wird berücksichtigt, wie sich der Strommix in Zukunft entwickelt oder welche Effizienzsteigerungen und Technologiewechsel zu erwarten sind. Die so entstandenen Background-Datenbanken können anschließend für die Modellierung von pLCA verwendet werden.

Beispielhafte Ergebnisse – Treibhausgasemissionen des deutschen Strommixes

Das folgende Beispiel zeigt, wie die THE-Emissionen des deutschen Strommix bis zum Jahr 2050 mithilfe einer prospektiven LCA ermittelt werden können. Die Vordergrunddaten stammen aus dem Projekt eXtremOS . Die dort für das Szenario solidEU angenommene Entwicklung des Strommixes sind in Abbildung 3 dargestellt.

Abbildung 3: Deutscher Strommix, basierend auf solidEU-Szenario des FfE-Projekts eXtremos

Die Abbildung zeigt, der Strommix zunehmend grüner wird, denn der Anteil von Wind und Photovoltaik nimmt bis zum Jahr 2050 stark zu. Für die Berechnung der THG-Emissionen wird der gesamte Lebenszyklus der Anlagen berücksichtigt. Das bedeutet, dass neben den direkten, verbrennungsbedingten Emissionen (z. B. bei der Verbrennung von Kohle oder Erdgas) auch alle Vorketten der Energieträger und Anlagen (z. B. Erdgasförderung oder Bau einer Windkraftanlage) berücksichtigt sind. Die Emissionen durch die Strombereitstellung und aus allen vor- und nachgelagerten Prozessen stammen aus der Datenbank ecoinvent.

Werden für das zuvor beschriebene Beispiel des deutschen Strommix die resultierenden THG-Emissionen einmal ohne und einmal mit Background-Anpassung berechnet, ergibt sich das in Abbildung 4 dargestellte Ergebnis.

Abbildung 4: Resultierende Emissionsfaktoren des deutschen Strommix; mit und ohne Background-Anpassungen

Für die Berechnung ohne Background-Anpassung wird für jedes Jahr zwar die Zusammensetzung des Strommix gemäß der Entwicklungen in Abbildung 3 berücksichtigt, allerdings ohne eine Anpassung der Background-Datenbank ecoinvent. Bei der Berücksichtigung der Background-Anpassung wird das Szenario „SSP2- Peak Budget 1150“ des REMIND-Modells verwendet. Wie zuvor beschrieben, wird für jedes betrachtete Jahr eine Version der ecoinvent-Datenbank erstellt, in welcher die zukünftigen Entwicklungen gemäß diesem Szenario berücksichtigt werden. Die so angepassten Background-Prozesse werden anschließend mit dem in dem jeweiligen Jahr vorherrschenden Strommix aus dem solidEU-Szenario kombiniert.

Die Ergebnisse verdeutlichen, dass die Anpassung des Backgrounds vor allem in späteren Jahren zu einer deutlichen Reduktion der THG-Emissionen des Strommix führt. Denn die Verwendung eines Klimaschutzszenarios für den Background führt dazu, dass sich die Emissionen der vor- und nachgelagerten Prozesse verringern.

Abbildung 5 zeigt eine genauere Aufschlüsselung der Emissionen je Energieträger für den Fall mit Background-Anpassung.

Abbildung 5: Entwicklung der Emissionen des Strommix aufgeschlüsselt nach Energieträgern; inkl. Background-Anpassungen

Es zeigt sich der positive Effekt des Rückgangs von fossilen Energieträgern auf die THG-Intensität des Strommix. Die Abbildung verdeutlicht aber auch, dass selbst im Jahr 2050, also nach der Umsetzung der Energiewende und einer Anpassung der Background-Datenbank an ein Klimaschutzszenario, Emissionen in der Vorkette von Erneuerbaren Energien entstehen. Diese Restemissionen sind auf verschiedene Effekte zurückzuführen. Zum einen schreitet die Dekarbonisierung der Industrie und Energiewirtschaft in unterschiedlichen Regionen der Welt unterschiedlich schnell voran. Zum anderen sind nicht alle Wirtschaftszweige und Prozesse in premise abgebildet, sodass einige Prozesse nicht an zukünftige Entwicklungen angepasst werden.

Die Umweltprobleme der Zukunft lösen oder nur der Blick in die Glaskugel?

Mithilfe der Methode können Aussagen über eine mögliche Entwicklung der Umweltwirkungen getätigt werden. Die Methoden und Ansätze sind wichtig um heute Entscheidungen für eine umweltfreundlichere Welt zu treffen. Nur so können beispielsweise neu entstehende Technologien umweltfreundlich weiterentwickelt werden, klimafreundliche Entscheidungen für die Zukunft getroffen oder Klimaziele langfristig entwickelt werden. Auch Unternehmen können von den wissenschaftlichen Methoden profitieren und beispielsweise berechnen, wie sich die vor- und nachgelagerten Emissionen in Scope 3 in Zukunft entwickeln. Aber wie bei klassischen Ökobilanzen bieten auch zukunftsorientierte Ökobilanzen keine absolute Wahrheit über die Umweltwirkungen eines Produktes. Für die Berechnung werden zahlreiche Annahmen getroffen, Szenarien verwendet und versteckte Hintergrunddaten können ggf. das Ergebnis maßgeblich beeinflussen. Ein kritischer Umgang mit den Ergebnissen ist dementsprechend sehr wichtig und sollte nicht vernachlässigt werden.

Wie können wir Sie unterstützen?

Prospektive LCAs sind aktuell noch im Fokus der Wissenschaft, doch die Methoden und Datensätze werden zukünftig auch in der Praxis immer relevanter: So können mithilfe der prospektiven LCA zum Beispiel zukünftige Scope 3 Emissionen berechnet werden. Zudem ist die Berücksichtigung zukünftiger Entwicklungen auch für die fundierte Ableitung unternehmensspezifischer Klimaziele und Transformationspfade bspw. im Zuge der Science Based Targets Initiative (SBTi) relevant.

Gerne unterstützen wir auch Ihr Unternehmen mit:

  • Schulungen und Aufbau der methodischen Expertise im Bereich der prospektiven Betrachtung von Umweltwirkungen
  • Unterstützung bei der Berechnung von prospektiven Emissionen beispielsweise für die Ermittlung von wissenschaftsbasierten Klimazielen in Scope 3

Kontaktieren Sie uns unverbindlich unter: aregett@ffe.de, +49 (0)89 158121-45 oder info@ffe.de

Literatur:

[1] Arvidsson, R., Tillman, A. M., Sandén, B. A., Janssen, M., Nordelöf, A., Kushnir, D., & Molander, S. (2018). Environmental Assessment of Emerging Technologies: Recommendations for Prospective LCA. Journal of Industrial Ecology, 22(6), 1286–1294. https://doi.org/10.1111/jiec.12690

[2] Guinée, J. B., Cucurachi, S., Henriksson, P. J. G., & Heijungs, R. (2018). Digesting the alphabet soup of LCA. International Journal of Life Cycle Assessment, 23(7), 1507–1511. https://doi.org/10.1007/s11367-018-1478-0

[3] ecoinvent Version 3; Wernet, G., Bauer, C., Steubing, B., Reinhard, J., Moreno-Ruiz, E., and Weidema, B., 2016. The ecoinvent database version 3 (part I): overview and methodology. The International Journal of Life Cycle Assessment, [online] 21(9), pp.1218–1230.

[4] R. Sacchi, T. Terlouw, K. Siala, A. Dirnaichner, C. Bauer, B. Cox, C. Mutel, V. Daioglou, G. Luderer, PRospective EnvironMental Impact asSEment (premise): A streamlined approach to producing databases for prospective life cycle assessment using integrated assessment models; Renewable and Sustainable Energy Reviews, Volume 160, 2022 https://doi.org/10.1016/j.rser.2022.112311.