16.08.2023

Beitragsreihe zur Charakterisierung von Niederspannungsnetzen und Netzrepräsentanten: Identifikation von Referenznetzen für die Cluster

In vielen Forschungsprojekten im Kontext der Elektrifizierung von Mobilität, Wärme und Industrie wird untersucht, wie sich weitere elektrische Verbraucher in Kombination mit dem Hochlauf erneuerbarer Energien auf die Stromnetze auswirken. Ein großer Anteil der hinzukommenden elektrischen Last wird in den Niederspannungsnetzen (NS-Netz) angeschlossen. Ein Ansatz zu deren Integration ist die Flexibilisierung des Verbrauchsverhaltens, um Engpässe vermeiden oder beheben zu können. Zur Evaluierung der Konzepte bezüglich deren Auswirkung auf die Netze werden diese mit künftigen Belastungsszenarien und Netzbetriebsstrategien simuliert.

Insgesamt gibt es in Deutschland über 500.000 Niederspannungsnetze, die von rund 800 Verteilnetzbetreibern betrieben werden [1]. In Summe ergeben diese eine Leitungslänge von über 1.200.000 km [2]. Es ist kaum möglich, alle Netze einzeln zu simulieren. Zum einen liegen viele dieser Netze nicht in simulierbarer Form vor und zum anderen würde dies einen enormen Rechenaufwand bedeuten. Um für verschiedene, in Deutschland vorliegende Netzstrukturen Aussagen treffen zu können, werden daher für Simulationen Referenznetze verwendet. Diese ermöglichen es, von geographischen und strukturellen Parametern auf die Netzinfrastruktur schließen zu können.

In dieser Beitragsreihe wird aufgezeigt, welche Parameter und Methoden herangezogen werden, um Referenznetze zu erstellen. Weiterhin werden Daten aus der Literatur zusammengeführt und ein Set an Referenznetzen erstellt. Konkret werden die folgenden Themen adressiert:

Modellierung charakteristischer Niederspannungsnetze

Niederspannungsverteilnetze (NS-Netze) müssen im Kontext der Energiewende die Integration zahlreiche neue Erzeugungsanlagen sowie die Versorgung neuer Verbraucher, wie z. B. Wärmepumpen und Elektrofahrzeuge, gewährleisten. Netzmodelle und damit durchgeführte Simulationen stellen ein adäquates Werkzeug da, um die Belastung der Netze durch das prognostizierte Energiesystem und letztendlich deren Tauglichkeit für ein klimaneutrales Energiesystem zu bewerten. Wie die ersten drei Beiträge dieser Beitragsreihe verdeutlichen, weisen die NS-Netze in Deutschland einen sehr heterogenen Charakter auf, dessen Charakterisierung ein komplexes Vorhaben darstellt. Im zweiten Teil dieser Reihe wurden Parameter und Kriterien beschrieben, welche laut Literatur NS-Netze charakterisieren. Die im dritten Teil dieser Reihe identifizierten Meta-Cluster bauen auf diese Parameter auf und ermöglichen so eine Abgrenzung verschiedener Netztypen. Es zeigt sich, dass die Topologie und Topographie in den Netzgebiete von diversen Faktoren, wie z. B. der Regionalität, der Siedlungsstruktur oder der primären Versorgungsaufgabe, beeinflusst werden. Diese Einflüsse zeigen sich letztendlich auch in den jeweils eingeschlossenen Niederspannungsnetzen wieder.

Auch die Verteilnetz-Analysen in der Literatur verdeutlichen, dass die repräsentative Abbildung von NS-Netzen durch Repräsentanten ein komplexes Vorhaben darstellt. In der wissenschaftlichen Analyse von NS-Verteilnetzen besteht hierbei häufig der Zielkonflikt aus einer möglichst repräsentativen versus einer möglichst detailgetreuen Darstellung der Netzbelastung. Die öffentliche Verfügbarkeit von realen Topologie-Daten von NS-Netzen ist, auch für wissenschaftliche Analysen, stark eingeschränkt. Dies ist vorrangig auf den Grund zurückzuführen, dass Niederspannungsnetzen im erweiterten Sinn als „kritische Infrastruktur“ eingestuft werden und auch datenschutzrechtliche Bedenken vorliegen (Schutz der Letztverbraucher). Abhilfe schaffen hier sogenannte Typnetztopologien, welche einer charakteristischen Abbildung realer Topologien entsprechen. Gegenüber realen Topologien weisen sie den Nachteil auf, dass der Detailgrad und die Aussagekraft bzgl. realer Netzbelastungszustände durch die statistische Vereinfachung deutlich vermindert wird. Andererseits sind diese Topologien in der Wissenschaft besonders geeignet, um verschiedene Szenarien miteinander zu vergleichen und auch die Aussagekraft hinsichtlich überregionaler Auswirkungen ist durch die statistische Repräsentativität der Typnetze größer, wodurch z. B. die Hochrechnung auf Gemeinden oder Stadteile möglich wird. [3] Im Kontext der identifizierten Meta-Cluster (vgl. dritter Teil der Beitragsreihe) wurden im Folgenden charakteristische Typnetztopologien modelliert.

Methodisches Vorgehen bei der Modellierung der Typnetztopologien

Das Ziel bei der Modellierung von Typnetzen ist die möglichst repräsentative Abbildung identifizierter Charakteristika einer spezifischen Gruppe an Verteilnetzen, wie z. B. die Netze einer ausgewählten Region oder Siedlungsstruktur. Zur möglichst repräsentativen Abbildung der Charakteristika der identifizierten Meta-Cluster wurden bei der Modellierung diverse Kennwerte berechnet und evaluiert, welche die Topologie beschreiben. Aus den Topologien und Clustern der Literatur und zur Verifizierung genutzten, realen Topologien wurden folgende Kennwerte je Netzgebiet berücksichtigt:

  • Durchschnittliche Anzahl der Stränge/Stromkreisabgänge
  • Minimale, durchschnittliche und maximale Stranglängen
  • Durchschnittliche Länge der Hausanschlussleitungen
  • Durchschnittliche Anzahl der Hausanschlüsse je Netzgebiet und Strang
  • Durchschnittliche Distanzen zwischen den Hausanschlüssen
  • Vermaschungsgrad (Anzahl geschlossener Ringe/Maschen)
  • Durchschnittliche Transformatorscheinleistung (Standard-Leistungsklassen)

Da die identifizierten Verteilnetze aus der Literatur größtenteils bereits aus einem vorgelagerten Cluster-Prozess entstammen, wurde diesen ein individueller Gewichtungsfaktor, je nach Detailgrad an Informationen zur Topologie und Anzahl der jeweils repräsentierten Topologien, zugeordnet. Aus den kalkulierten Parametern je Verteilnetz sowie der definierten Gewichtungsfaktoren wurden die Mittelwerte der Kenngrößen berechnet, welche zur Modellierung der Typnetztopologien angewandt wurden.

Für die Modellierung wurde das Ziel gesetzt, einerseits das mittlere Verteilnetz mit einer spezifischen Charakteristik repräsentativ abzubilden, andererseits jedoch auch topologisch extremere Ausprägungen respektive potenzielle Netzüberlastungszustände in den Typnetzen zu berücksichtigen. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde bei der Dimensionierung und Belegung der Stränge/Stromkreise der Typnetztopologien gewichtet die gesamte kalkulierte Bandbreite der Referenznetze berücksichtigt. Die Stränge wurden nach folgendem Muster modelliert:

  • Strang 1: Maximale Stranglänge mit maximaler Anzahl an Netzverknüpfungspunkten je Strang
  • Strang 2: Minimale Stranglänge mit minimaler Anzahl an Netzverknüpfungspunkten je Strang
  • Strang 3: Mittlere Stranglänge mit mittlerer Anzahl an Netzverknüpfungspunkten je Strang
  • Strang 4-n: Zufällig normalverteilte Stranglänge, um mittlere Stranglänge mit ebenso zufällig normalverteilter Anzahl an Netzverknüpfungspunkten je Strang

Diese Verteilung der Stränge ermöglicht es den durchschnittlichen Charakter eines Typnetzes abzubilden, wobei durch die Integration von jeweils einem Stromkreis mit minimaler und maximaler Stranglänge ausgeglichen auch die Bandbreite der Referenznetze berücksichtigt wurde. Die Gesamtnetzlänge und mittlere Anzahl an Netzverknüpfungspunkten wurde als Randbedingung bei der Modellierung berücksichtigt, um auch hinsichtlich dieser Kenngrößen das mittlere Netz abzubilden. Die Netze wurden als Strahlennetze modelliert, da die Maschen in den Referenztopologien zu individuellen Situationen abbildeten, um diese zu vereinheitlichen. Als Kabeltypen wurden Standard-Aluminium-Kabel modelliert (Querschnitt: 4×150 mm² in der Verteilung 4×50 mm² beim Hausanschluss). Die kalkulierte Anzahl der Netzverknüpfungspunkte je Strang wurden entlang der Stränge gleichverteilt, wodurch die mittleren Distanzen vereinheitlicht wurden. Die Transformatorscheinleistung wurde ausgehend vom Mittelwert zur nächstgelegenen Standard-Transformatorgröße gerundet. In Testsimulationen mit einem Szenario, welches den Status quo der Komponenten abbildet, wurden geprüft, ob die Transformatoren ausreichend groß dimensioniert wurden. Im Fall einer unverhältnismäßig hohen Auslastung wurde ein Transformator aus der nächst höheren Leistungsklasse integriert. Durch diese methodischen Annahmen resultierten zu jedem der definierten Meta-Cluster eine Typnetztopologie, welche in ihrer grundlegenden Topologie ähnlich strukturiert sind. Nachfolgende Abbildung 1 stellt eine dieser modellierten Topologien exemplarisch dar.

Abbildung 1: Topologische Darstellung des Typnetzes „Verteilte Mehrfamilienhaus Siedlung“

Durch die Modellierung der Typnetze auf Basis der Referenznetze, konnte die Charakteristik der in den Meta-Clustern identifizierten Verteilnetztypen manifestiert werden, wodurch letztendlich die Simulation und Bewertung von Netzbelastungszuständen möglich wird. Es gilt zu berücksichtigen, dass die Typnetze nicht die Diversität deutscher Niederspannungsnetze abbilden können, jedoch stellen die durchgeführten Analysen und die Modellierung einen weiteren Schritt zur Typisierung dar. Im Downloadbereich werden die modellierten Topologien, äquivalent zu den Meta-Clustern, in individuellen Steckbriefen dargestellt. Zusätzlich werden die modellierten Typnetze als Knoten-Kanten-Modelle (im OpenDSS-Standard) auf gitlab bereitgestellt. Hier werden wir in der kommenden Woche noch Code veröffentlichen. In der Anwendung/Verwendung dieser Topologien für weitere Analysen/Studien sollte berücksichtigt werden, dass diese Topologien nicht für die Abbildung real Netzbelastungszustände in individuellen NS-Netzen geeignet sind. Sie befähigen vielmehr zum Vergleich von Regionen/Szenarien, wie z. B. der Bewertung von regionalen Auswirkungen des Hochlaufs der Elektromobilität, oder zur Hochrechnung von Auswirkungen, wie z. B. dem Netzausbau in ländlichen Regionen, wobei bevorzugt eine Monte-Carlo-Simulation eingesetzt werden sollte. Weitere Informationen zu Vor-/Nachteilen und der sinnvollen Anwendung von Typnetzen sind in [3] veröffentlicht.

Literatur

[1] Anzahl der Stromnetzbetreiber in Deutschland in den Jahren 2012 bis 2022. Hamburg: Statista, 2023.

[2] Länge des Stromnetzes in Deutschland nach Spannungsebene im Jahresvergleich 2010 und 2021. Hamburg: Statista, 2023

[3] Weiß, Andreas et al.: Analyse methodischer Modellierungsansätze im Kontext von Verteilnetzsimulationen. In: IEWT 2021 – 12. Internationale Energiewirtschaftstagung; Wien: TU Wien, 2021.