Beitragsreihe zur Charakterisierung von Niederspannungsnetzen: Typisierung von Netzen in der Niederspannung
In vielen Forschungsprojekten im Kontext der Elektrifizierung von Mobilität, Wärme und Industrie wird untersucht, wie sich weitere elektrische Verbraucher in Kombination mit dem Hochlauf erneuerbarer Energien auf die Stromnetze auswirken. Ein großer Anteil der hinzukommenden elektrischen Last wird in den Niederspannungsnetzen (NS-Netz) angeschlossen. Ein Ansatz zu deren Integration ist die Flexibilisierung des Verbrauchsverhaltens, um Engpässe vermeiden oder beheben zu können. Zur Evaluierung der Konzepte bezüglich deren Auswirkung auf die Netze werden diese mit künftigen Belastungsszenarien und Netzbetriebsstrategien simuliert.
Insgesamt gibt es in Deutschland über 500.000 Niederspannungsnetze, die von rund 800 Verteilnetzbetreibern betrieben werden [1]. In Summe ergeben diese eine Leitungslänge von über 1.200.000 km [2]. Es ist kaum möglich, alle Netze einzeln zu simulieren. Zum einen liegen viele dieser Netze nicht in simulierbarer Form vor und zum anderen würde dies einen enormen Rechenaufwand bedeuten. Um für verschiedene, in Deutschland vorliegende Netzstrukturen Aussagen treffen zu können, werden daher für Simulationen Referenznetze verwendet. Diese ermöglichen es, von geographischen und strukturellen Parametern auf die Netzinfrastruktur schließen zu können.
In dieser Beitragsreihe wird aufgezeigt, welche Parameter und Methoden herangezogen werden, um Referenznetze zu erstellen. Weiterhin werden Daten aus der Literatur zusammengeführt und ein Set an Referenznetzen erstellt. Konkret werden die folgenden Themen adressiert:
- Niederspannungsnetze in Deutschland
- Typisierung von Netzen in der Niederspannung
- Identifikation von Netzclustern in der Niederspannung
- Identifikation von Referenznetzen für die Cluster
- Ausgestaltung der Niederspannungsnetze im klimaneutralen Energiesystem: Szenarien für Verbrauch, Erzeugung und Netzbetrieb
Beschreibung von Niederspannungsnetzen
Die Charakteristik einzelner Niederspannungsnetze (NS-Netze) wird durch diverse Faktoren geprägt, welche sich individuell deutlich unterscheiden. Zur Typisierung des deutschen Niederspannungsnetzes können somit neben den energietechnischen Parameter, welche die Netze letztendlich definieren, auch geographische, infrastrukturelle und soziodemographische Aspekte als Unterscheidungsindikatoren herangezogen werden. In verschiedenen Studien wurden diese Faktoren bereits untersucht und bewertet, um das NS-Netz für verschiedene Regionen zu Charakterisieren. Im Rahmen einer Meta-Analyse wurden diese Studien analysiert und gegenübergestellt, um deren Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede herauszuarbeiten. Die Analyse zeigt eine sehr diverse Studienlage, wobei die Prozesse und relevanten Parameter in vielen Fällen nur oberflächlich definiert bzw. beschrieben wurden. Aus einer Auswahl aus sieben Studien, mit ausreichend fundierte Informationsgrundlage, konnten Parameter identifiziert werden, welche zur Charakterisierung von NS-Netzen geeignet sind. Abbildung 1 listet die wesentlichen Kriterien auf, welche in der Literatur zur Typisierung von Clustern und letztendlich NS-Netzen angewandt wurden.
Die Tabelle verdeutlicht, dass in der Literatur kein eindeutiger Konsens hinsichtlich der für die Clusterung von NS-Netzen relevanten Parameter besteht. Es gilt jedoch zu berücksichtigen, dass die Auswahl der Parameter in den Studien einerseits durch die zugrundeliegenden methodischen Cluster-Ansätze definiert werden und andererseits auch Korrelationen zwischen den Parametern bestehen, wodurch eine eindeutige Differenzierung nicht möglich ist. Um die Relevanz der jeweiligen Parameter zu überprüfen, wurden die Ergebnisse der Literatur im Detail miteinander verglichen und im Anschluss durch eigene Untersuchungen mit einem Datensatz von 1.200 realen NS-Netzen verifiziert. Die in der Literatur relevantesten Parameter werden nachfolgend erörtert.
Charakterisierende Merkmale von NS‑Netzen
Hausabstand zum nächsten Nachbarn: Die Distanz zwischen den Gebäuden eines NS-Netzes gibt die Kompaktheit/Verdichtung eines Versorgungsgebiets wieder. In städtisch geprägten Regionen, zeigt sich hier gegenüber ländlichen Regionen ein tendenziell geringerer Wert, da die Fläche höher verdichtet ist und somit die Abstände zwischen den Gebäuden respektive die Leitungen der Versorgungsnetze äquivalent kürzer sind. Sehr ähnlich zu diesem Parameter ist der durchschnittliche Leitungsabstand (Länge aller Leitungen im NS-Netz geteilt durch die Anzahl an Hausanschlüssen (HA)) des Netzes. Die Länge des physischen Kabels zwischen den Gebäuden (ohne die Betrachtung von Stichleitungen zu den Gebäuden) entspricht in etwa dem geographischen Hausabstand, wodurch aus der Netzlänge und der Anzahl an HA letztendlich ein Indikator zur Siedlungsstruktur des Versorgungsgebiets kalkuliert werden kann. Die enge Verknüpfung von elektrischen und geographischen Parametern ist hier besonders ersichtlich.
Bevölkerungsdichte/Anzahl der Wohnungen: Die Bevölkerungsdichte ist ein Maß bzgl. dem Grad der Urbanisierung des jeweiligen Netzgebietes. Die Bevölkerungsdichte lässt letztendlich Rückschlüsse auf zwei wesentliche Parameter zu: Zum einen in der Kompaktheit der Siedlung (vgl. Hausabstand zum nächsten Nachbarn) und zum anderen in der Anzahl an Bewohnern Gebäude. Die Anzahl an Bewohner pro Gebäude korreliert mit der Anzahl an Wohnungen pro Gebäude, welche als Maß wiederum mit der Höhe der Gebäude korreliert. Beispielsweise haben innerstädtische Bezirke eine hohe Bevölkerungsdichte, sowie eine hohe Anzahl an Mehrfamilienhäuser (MFH), welche je nach Bebauungsart (z. B. Zeilenbebauung) auch eine hohe Kompaktheit aufweisen. Die Anzahl der Wohneinheiten wird vom Netzbetreiber über die Anzahl an Stromzählern bestimmt, wobei auch Gewerbeeinheiten und besondere Verbrauchseinrichtungen eigene Zähler aufweisen. Die Anzahl der Wohnungen je Gebäude in Verbindung mit dem Parameter „Hausabstand zum nächsten Nachbarn“ somit bereits eine deutliche Indikation über die Charakteristik der Kubatur. Die Kombination ermöglicht somit die Unterscheidung von urbanen von ruralen NS-Netzgebieten.
Anzahl der Hausanschlüsse: Die Anzahl der HA je Netzgebiet, welche durch einen Ortsnetztransformators (ONT) versorgt werden, ist ein Parameter welcher nicht ohne Kenntnis der tatsächlichen Netzpläne abgeleitet werden kann. Dieser Parameter korreliert mit Parametern der Siedlungsstruktur, wobei ländliche/vorstädtische Regionen mit kleineren Gebäuden im Gegensatz zu städtischen Regionen mit großen Gebäuden eine höhere Anzahl an HA je Netz aufweisen. Die Anzahl der HA je Netzgebiet wird jedoch auch durch die individuelle Versorgungsaufgabe beeinflusst. Netzgebiete deren Versorgungsgebiet einen höheren Gewerbeanteil aufweisen, umfassen tendenziell eine deutlich geringere Anzahl an Netzverknüpfungspunkten, als jene mit Fokus auf der Versorgung von Privathaushalten.
Transformatorleistung: Die Leistung des Transformators, welcher ein Netzgebiet versorgt, steht ebenfalls in Korrelation zur Siedlungsstruktur sowie zur Versorgungsaufgabe. Je mehr Gebäude bzw. Letztverbraucher an einen ONT angeschlossen sind bzw. je energieintensiver deren Verbrauchsprofil, desto höher ist die Bemessungsleistung des Transformators. Um den Einfluss der Gebäudeart unabhängig von der Anzahl an Gebäuden bzw. HA im Netz zu untersuchen, wurde die Transformatorleistung in der Literatur häufig auf die Anzahl der HA normiert. Es zeigt sich zudem, dass zwischen Transformatorleistung und dem Anteil an Gebäuden mit Gewerbe-, Handel- oder Dienstleistungs-Betrieben (GHD-Einheiten) ebenfalls eine Korrelation besteht. NS-Netze mit einem hohen Gewerbe-Anteil weisen in der Regel eine verhältnismäßig hohe Transformatorleistung je HA auf.
Netzstränge: Der Parameter Netzstränge umfasst in der Literatur eine Reihe von Parametern, wie die Anzahl der vom ONT abgehenden Stromkreise, die maximale Leitungslänge je Stromkreis, die damit verbundene Impedanz sowie die durchschnittliche Leitungslänge. Die Gemeinsamkeit dieser Attribute besteht darin, dass sie die Dimensionen der Topologie und deren Topographie beschreiben. In der Literatur werden diese Parameter als weniger charakteristisch eingestuft, da diese letztendlich durch die Charakteristik der Siedlungsstruktur geprägt werden und auch in ähnlichen Netzgebieten starke Schwankungen aufweisen. Der Rückschluss auf die Siedlungsstruktur ist aus den Stranglängen nur sinnvoll, wenn weitere Parameter, wie z. B. die charakteristische Versorgungsaufgabe der Region, bekannt sind.
Neben den beschriebenen Parametern gibt es eine Vielzahl an weiteren Merkmalen, welche ein NS‑Netz charakterisieren können und mit den beschriebenen Parameter korrelieren. Aus der Untersuchung der Schnittmenge an Parametern der Literatur geht hervor, dass sich NS-Netze im Wesentlichen mit den primär Parametern „Trafoscheinleistung pro HA“, „Abstand zum nächsten Nachbarn“ und „Anzahl an Wohnungen pro HA“ charakterisieren lassen, da diese die Siedlungsstruktur mit hinreichender Genauigkeit definieren. Im folgenden Beitrag der Reihe wird die Ermittlung von Netzclustern in der NS mit den drei identifizierten Parametern beschrieben und Steckbriefe zu den identifizierten Clustern vorgestellt.
Literatur
[1] Anzahl der Stromnetzbetreiber in Deutschland in den Jahren 2012 bis 2022. Hamburg: Statista, 2023.
[2] Länge des Stromnetzes in Deutschland nach Spannungsebene im Jahresvergleich 2010 und 2021. Hamburg: Statista, 2023
[3] Müller, Mathias et al.: Future grid load with bidirectional electric vehicles at home. Berlin: International ETG Congress 2021. VDE, 2021
[4] Samweber, Florian et al.: Abschlussbericht Einsatzreihenfolgen – Projekt MONA 2030: Ganzheitliche Bewertung Netzoptimierender Maßnahmen gemäß technischer, ökonomischer, ökologischer, gesellschaftlicher und rechtlicher Kriterien. München: Forschungsstelle für Energiewirtschaft, 2017.