17.08.2023

Beitragsreihe zur Charakterisierung von Niederspannungsnetzen und Netzrepräsentanten: Verteilnetze im klimaneutralen Energiesystem: Szenarien für Verbrauch, Erzeugung und Netzbetrieb

In vielen Forschungsprojekten im Kontext der Elektrifizierung von Mobilität, Wärme und Industrie wird untersucht, wie sich weitere elektrische Verbraucher in Kombination mit dem Hochlauf erneuerbarer Energien auf die Stromnetze auswirken. Ein großer Anteil der hinzukommenden elektrischen Last wird in den Niederspannungsnetzen (NS-Netz) angeschlossen. Ein Ansatz zu deren Integration ist die Flexibilisierung des Verbrauchsverhaltens, um Engpässe vermeiden oder beheben zu können. Zur Evaluierung der Konzepte bezüglich deren Auswirkung auf die Netze werden diese mit künftigen Belastungsszenarien und Netzbetriebsstrategien simuliert.

Insgesamt gibt es in Deutschland über 500.000 Niederspannungsnetze, die von rund 800 Verteilnetzbetreibern betrieben werden [1]. In Summe ergeben diese eine Leitungslänge von über 1.200.000 km [2]. Es ist kaum möglich, alle Netze einzeln zu simulieren. Zum einen liegen viele dieser Netze nicht in simulierbarer Form vor und zum anderen würde dies einen enormen Rechenaufwand bedeuten. Um für verschiedene, in Deutschland vorliegende Netzstrukturen Aussagen treffen zu können, werden daher für Simulationen Referenznetze verwendet. Diese ermöglichen es, von geographischen und strukturellen Parametern auf die Netzinfrastruktur schließen zu können.

In dieser Beitragsreihe wird aufgezeigt, welche Parameter und Methoden herangezogen werden, um Referenznetze zu erstellen. Weiterhin werden Daten aus der Literatur zusammengeführt und ein Set an Referenznetzen erstellt. Konkret werden die folgenden Themen adressiert:

  1. Niederspannungsnetze in Deutschland
  2. Charakterisierung von Netzen in der Niederspannung
  3. Identifikation von Netzclustern in der Niederspannung
  4. Identifikation von Referenznetzen für die Cluster
  5. Ausgestaltung der Niederspannungsnetze im klimaneutralen Energiesystem: Szenarien für Verbrauch, Erzeugung und Netzbetrieb

Veränderung zum klimaneutralen Energiesystem

Wie in Beitrag 1 der Reihe beschrieben, ändert sich die Struktur und das Verhalten der an die Niederspannung angebundenen Verbraucher und Erzeuger im Zuge der Energiewende. Um auf die Herausforderungen zu reagieren, werden unter anderem Anpassungen im Netzbetrieb diskutiert, wie beispielsweise der Einsatz von Flexibilität. Daher stellt sich die Frage, welche Annahmen getroffen werden müssen, um in der Simulation von Zukunftsszenarien zum einen das Verbrauchs- und Erzeugungsverhalten und zum anderen den künftigen Netzbetrieb realitätsgetreu abzubilden.

Szenarien für die Abbildung von Erzeugern und Verbrauchern im Verteilnetz der Zukunft

Die Annahmen für den Zubau erneuerbarer Energien (EE) sowie den Hochlauf elektrischer Verbraucher – insbesondere von Wärmepumpen und Ladepunkten für  Elektrofahrzeuge – variieren stark. Als Anhaltspunkt können politische Ziele herangezogen werden, welche jedoch den deutschlandweiten Hochlauf umfassen. Durch die geografisch sehr unterschiedlichen EE-Potenziale sowie strukturell bedingte Unterschiede im Hochlauf elektrischer Verbraucher müssen diese regional heruntergebrochen werden.

Gemäß §14d des Energiewirtschaftsgesetzes müssen Verteilnetzbetreiber (VNB) zum 30. April 2024 der Bundesnetzagentur erstmals einen Netzausbauplan vorlegen und diesen ab dann im zweijährigen Turnus aktualisieren. Der Netzausbauplan soll auf Regionalszenarien basieren, welche für Planungsregionen mindestens 10 Monate vorab zu erstellen sind. Alle VNB einer Planungsregion haben dieses Szenario in Zusammenarbeit mit den überlagerten ÜNB zu erstellen. Dabei sollen die Ausbaupläne auf Übertragungsnetzebene sowie von der Bundesregierung festgelegte klima- und energiepolitische Ziele berücksichtigt werden. [3] Deutschland wurde dafür in 6 Planungsregionen unterteilt: Nord, Mitte, West, Ost, Bayern und Süd-West.

Abbildung 1 Regionen für welche die VNBs Regionalszenarien erstellen [4]

Alle Regionen haben ihr Regionalszenario für 2023 bereits veröffentlicht [4]. Diese umfassen Hochlaufzahlen für einzelne Sektoren und Verbrauchergruppen (z.B. Haushalt, Verkehr, Wärmepumpen, Elektrolyse, …) sowie für EE-Anlagen für einzelne Stützjahre (2028, 2033, (2037,) 2045).

Szenarien für den Verteilnetzbetrieb im klimaneutralen Energiesystem

Der Einsatz verbrauchsseitiger Flexibilität ist eine vieldiskutierte Maßnahme für die künftige Engpassbewirtschaftung in Niederspannungsnetzen. Insbesondere das Verschieben von Ladevorgängen von Elektrofahrzeugen sowie des elektrischen Bezugs von Wärmepumpen wird in vielen Forschungsprojekten der FfE untersucht und erprobt. In den Regionalszenarien wird von den berichtspflichtigen VNB die Berücksichtigung dieser Möglichkeit aufgegriffen. Dabei kommt es zu teils unterschiedlichen Einschätzungen bezüglich des künftigen Einsatzes von Flexibilität [4]:

  • Planungsregion Nord: Das Potenzial der Nachfragesteuerung ist den VNB zufolge nicht abzuschätzen und wird daher nicht in den Szenarien berücksichtigt. Einige VNB werden dieses jedoch in der Netzausbauplanung berücksichtigt. Insgesamt wird netzdienliche Flexibilität nur im Einzelfall eingesetzt, stellt für das künftigen Energiesystem jedoch einen Planungsgrundsatz dar.
  • Planungsregion Ost: Flexibilität wird v.a. systemorientiert eingesetzt wobei die Einsatzart stark von dem noch auszugestaltenden Marktdesign und den regulatorischen Rahmenbedingungen abhängt.
  • Planungsregion West: Keine Nennung verbrauchsseitiger Flexibilisierung
  • Planungsregion Mitte: Wärmepumpen und Elektrofahrzeuge werden künftig netz- oder marktorientiert eingesetzt. Mit „netzorientiert“ ist gemeint, dass flexible Last in Zeiten mit wenig Last im Netz verschoben wird; „marktorientiert“ meint, dass flexibler Verbrauch in Zeitfenster mit einem hohen EE‑Anteil geschoben wird. Der Gewerbe-Handel-Dienstleistungssektor und die Industrie wird derzeit vernachlässigt.
  • Planungsregion Süd-West: Das Heben von Potenzial der Lastverlagerung (Wärmepumpen und Ladevorgänge von Elektrofahrzeugen) wird nicht berücksichtigt.
  • Planungsregion Bayern: Keine Berücksichtigung von Flexibilitäts- und Speichertechnologien in den nächsten 5 Jahren („keine nennenswerte netzausbaubedarfsreduzierende Wirkung durch Flexibilitäten und Speichertechnologien“).

Damit wird deutlich, dass die VNB in den nächsten Jahren nicht mit dem Einsatz verbrauchsseitiger Flexibilität rechnen. Erwähnt wird auch die Ausgestaltung des §14a im Energiewirtschaftsgesetz, der aufgrund der zum Zeitpunkt der Erstellung der Regionalszenarien fehlenden Konkretisierung von keiner der Planungsregionen berücksichtigt wird. Für die Implementierung von Netzbetriebsstrategien in Simulationen der Niederspannungsnetze bedeutet dies, dass bis 2030 netzdienliche Flexibilität kaum eine Rolle spielt. Für die darauffolgenden Jahre gilt es weiterhin Möglichkeiten und Effizienzpotenziale aufzuzeigen, die der Einsatz flexibler Verbraucher in der Niederspannung mit sich bringen kann.

Literatur

[1] Anzahl der Stromnetzbetreiber in Deutschland in den Jahren 2012 bis 2022. Hamburg: Statista, 2023.
[2] Länge des Stromnetzes in Deutschland nach Spannungsebene im Jahresvergleich 2010 und 2021. Hamburg: Statista, 2023
[3] Gesetz über die Elektrizitäts- und Gasversorgung (Energiewirtschaftsgesetz – EnWG), § 14d Netzausbaupläne, Verordnungsermächtigung; Festlegungskompetenz vom 22. Mai 2023.
[4] Regionalszenario, VNBdigital. URL: https://vnbdigital.de/service/region, aufgerufen am 06.07.2023.