16.01.2023

Beitragsreihe Use-Case- und Geschäftsmodellentwicklung an der FfE: Was ist ein Use-Case und warum ist das wichtig?

Das Standardvorgehen in vielen Forschungsprojekten ist es, zu Projektbeginn mit allen Projektpartnern gemeinsam das Vorhaben in sogenannten Use Cases festzuhalten. Diese werden über mehrere Workshops und Diskussionsrunden hinweg entwickelt. Doch warum ist dieser sehr methodische Prozess für die Projektarbeit so wichtig, wo doch in Umsetzungsprojekten alle Partner möglichst schnell in die technische Entwicklung und Feldversuch-Planung starten wollen? Warum ist die Erarbeitung von Use Cases so zentral? Wie können Use Cases zur Geschäftsmodellentwicklung beitragen? Und was ist ein Use Case überhaupt? Diese und weitere Fragen werden in der fünfteiligen Beitragsreihe zur Use-Case- und Geschäftsmodellentwicklung an der FfE beantwortet.

Dieser Beitrag ist der erste von fünf Beiträgen, die nun sukzessive auf unserer Website erscheinen und in dieser Tabelle verlinkt werden.

Die Zusammenarbeitet verschiedener Akteure in großen Forschungskonsortien hat gezeigt, dass die Use-Case-Entwicklung zu Beginn eines Projekts eine richtungsweisende Übung sein kann. Use Cases dienen der Entwicklung eines gemeinsamen Verständnisses verschiedener Projektpartner aus unterschiedlichen Branchen und als Ausganslage für die Ausgestaltung von Feldtests sowie die weitere Projektarbeit. Nichtsdestotrotz ist der Begriff „Use Case“ schwer zu greifen und erfordert eine weitere Erläuterung. Der erste Teil der Beitragsreihe zur Use-Case- und Geschäftsmodellentwicklung erklärt, was ein Use Case genau ist und inwiefern Use Cases in der Projektarbeiten einen Mehrwert schaffen können.

Was ist ein Use Case?

Der Begriff des Use Cases (dt. Anwendungsfall) stammt aus dem Bereich der Softwareentwicklung und beschreibt die Darstellung genereller Funktionalitäten von Systemen, häufig mittels einer komponentenbasierten Design-Methodik (UML – Unified Modelling Language) [1]. Das Konzept der Use Cases wurde vom Electric Power Research Institute (EPRI) auf Smart Energy Grids ausgeweitet, um sicherzustellen, dass Akteure und Komponenten im zunehmend digitalisierten und intelligent verknüpften Energiesystem miteinander agieren können [2]. Normierungs- und Standardisierungsgremien erkannten die Notwendigkeit für einheitliche Anforderungen an Smart Grids und definierten ein standardisiertes Vorgehen zur Entwicklung von Use Cases, die sogenannte Use-Case-Methodik (IEC 62559 – Use Case Methodology) [3].

Eine häufig genannte Definition von Use Cases ist die der Deutschen Kommission Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik: „Ein Anwendungsfall (engl. Use Case) beschreibt eine Menge von Aktionen, die von einem System durchgeführt werden und ein beobachtbares Ergebnis erbringen, das typischerweise für einen oder mehrere Akteure oder Interessenvertreter des Systems von Wert ist.“ [4] Cockburn definiert einen Use Case als „eine Beschreibung der möglichen Abfolgen von Interaktionen zwischen dem betrachteten System und seinen externen Akteuren, bezogen auf ein bestimmtes Ziel“ [5]. Ein Use Case beschreibt demnach immer das Verhalten oder die Funktionalität eines Systems. Zentral dabei ist, dass das System einen Mehrwert schafft, wie z. B. bei einem Geschäftsprozess. Ein Use Case kann unterschiedliche Detailtiefen eines Systems beschreiben. Je nach Spezifikationsgrad können Use Cases kategorisiert werden: Während Business-Use-Cases Akteure, deren Rollen und Verantwortlichkeiten im Rahmen von Geschäftsprozessen beschreiben, steht bei Technical-Use-Cases die Beschreibung von Abläufen und Interaktionen zwischen den für den Geschäftsprozess erforderlichen Komponenten im Vordergrund [6].

Abbildung 1 1: Use-Case-Ebenen und Abgrenzung zum Geschäftsmodell

In vergangenen FfE Forschungsprojekten, wie z. B. C/Sells, InDEED und BDL – Bidirektionales Lademanagement, wurde die Use-Case-Methodik angewendet. Im Rahmen dessen wurden auch die häufig als abstrakt empfundenen Normen aufbereitet, um Projektpartnern eine einfachere Zugänglichkeit zur Use-Case-Thematik zu ermöglichen [6], [7]. In der Projektarbeit mit Forschungskonsortien werden die normenbasierten Begriffserklärungen zu Use Cases immer noch als schwer verständlich und praxisfern wahrgenommen. Daher war es unser Ziel, eine eigene, möglichst umfassende, leicht verständliche und insbesondere auch anwendungsorientierte Definition für Use Cases zu erarbeiten:

Definition Use Case

Warum sind Use Cases wichtig?

Zunehmend komplexe Systeme erfordern eine Koordination und Steuerung von Anforderungen auf Systemebene. Insbesondere die Zusammenarbeit unterschiedlicher Fachbereiche setzt eine gemeinsame Sprache in Form von einheitlichen Begriffen und Methoden voraus [8].  Durch die Ausarbeitung der Use Cases kann das zu untersuchende System übersichtlich und einfach verständlich dargestellt werden. Die Use-Case-Methode ist eine Möglichkeit, Use Cases in einer konsistenten Art und Weise zu sammeln und bereitzustellen [8].

Im Rahmen der Verkehrswende und der damit einhergehenden Elektrifizierung der Mobilität müssen zunehmend Akteure aus der Automobil- und Energiewirtschaft, die vorher wenig Schnittstellen hatten, interagieren. Nur durch eine enge Zusammenarbeit zwischen allen Akteuren kann eine erfolgreiche Integration der Elektromobilität in das Energiesystem erfolgen. Hierbei muss die Interoperabilität verschiedener Komponenten, wie Elektrofahrzeug, Wallbox, Home Energy Management System (HEMS), PV-Anlage und Stromzähler gewährleistet werden. Das Institute of Electrical and Electronic Engineers (IEEE) definiert Interoperabilität als “die Möglichkeit zweier oder mehrerer Systeme oder Komponenten, Informationen auszutauschen und sie zu nutzen“ [9]. Die Use-Case-Methodik ist eine Möglichkeit, um fehlende Interoperabilität zu erkennen [6]. Durch das Festhalten von interoperablen, sicheren und kostengünstigen Lösungen in Form von standardisierten Use Cases, dienen diese als Grundlage für Normungsarbeiten und helfen bei der Projektarbeit [3]. Das schrittweise Erarbeiten und Festhalten des betrachteten Systems in sogenannten Use Cases bereitet in wissenschaftlichen Großprojekten eine Basis für die gemeinsame Zusammenarbeit.

Fazit

In diesem Beitrag wurde erklärt, was ein Use Case ist und eine möglichst verständliche Use-Case-Definition vorgestellt. Wichtig sind Use Cases im Kontext der Energiewende, um in Großprojekten mit Feldversuchen und in Reallaboren ein gemeinsames Verständnis bei der Zusammenarbeit vieler Akteure zu schaffen. Dadurch können gemeinsame Schnittstellen und Standardisierungsbedarf erkannt werden. Wie Use Cases erarbeitet werden, wird in Teil 2 „Die Use-Case-Methodik“ erklärt.

Weitere Informationen

 

Literatur

[1] Oestereich, Bernd: Analyse und Design mit der UML 2.5 – Objektorientierte Softwareentwicklung. München: Oestereich, 2012.

[2] CEN-CENELEC-ETSI Smart Grid Coordination Group: CEN-CENELEC-ETSI Smart Grid Coordination Group – Sustainable Processes – SG-CG/M490/E_Smart Grid Use Case Management Process. Brüssel, Belgien: CENELEC, 2012.

[3] IEC 62559 – use case methodology. In: https://syc-se.iec.ch/deliveries/iec-62559-use-cases/. (Abruf am 2022-05-09); Genf: IEC, 2022.

[4] Generische Anforderungen an Intelligente Elektrizitätsversorgungssysteme (Smart Grids) – Teil 1: Anwendung der Anwendungsfallmethodik speziell auf die Festlegung von generischen Anforderungen an Smart Grids nach dem IEC-Systemansatz (DIN IEC/TS 62913-1 (IEC SyCSmartEnergy/57/CD:2017)). Ausgefertigt am 2016-06, Version vom 2017-12; Berlin: DKE Deutsche Kommission Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik in DIN und VDE, 2017.

[5] Cockburn, Alistair: Writing Effective Use Cases. Boston, USA: Addison-Wesley Professional, 2000.

[6] Bogensperger, Alexander et al.: Kochrezept Use Case Methodik – Eine praktische Anwendungshilfe für alle C/sells-Partner. München: Forschungsstelle für Energiewirtschaft e.V., 2018.

[7] Faller, Sebastian et al.: Anwendungshilfe Use Case Methodik – Eine praktische Anwendungshilfe für die Use Case Entwicklung. München: Forschungsstelle für Energiewirtschaft e. V. (FfE), 2020.

[8] DIN EN 62559-2 VDE 0175-102:2016-05 Anwendungsfallmethodik (DIN EN 62559-2). Ausgefertigt am 2016-05; Berlin: VDE Verlag GmbH, 2016.

[9] IEEE Standard Computer Dictionary: A Compilation of IEEE Standard Computer Glossaries . Issued 1991-01-18; New York: IEEE, 1991.