20.10.2023

Vom Use Case zum Reallabor

Für die Energiewende sind nicht nur technische, wirtschaftliche und digitale Innovationen erforderlich, sondern auch neue Geschäftsmodelle und veränderte Regulierung. Auf dem Weg von der Idee zur praktischen Anwendung bieten Reallabore einen geschützten Rahmen für Wissenschaftler:innen und Praxisakteur:innen, um Innovationen in der realen Welt auszuprobieren. So können technische Aspekte validiert, regulatorische Erkenntnisse gewonnen und die Abläufe zwischen beteiligten Akteuren im Realbetrieb erprobt werden.

Die FfE hat aus einer Vielzahl von laufenden und erfolgreich abgeschlossenen Projekten einen großen Erfahrungsschatz in der Erprobung von energiewirtschaftlichen Innovationen in Feldtests und Reallaboren aufgebaut. Beispielsweise werden im Projekt unIT-e²  – Reallabor für verNETZTe E-Mobilität verschiedene Use Cases zu intelligenten Ladekonzepten für die Elektromobilität im Rahmen von Simulationen, Labor- und Feldtests untersucht.

Dieser Beitrag stellt einen Wegweiser dar, um von der Idee über die Use-Case-Entwicklung bis zum erfolgreichen Feldtest oder Reallabor zu gelangen (s. Abbildung 1). Nachdem im ersten Teil des Artikels unterschiedliche Definitionen des Begriffs „Reallabor“ beschrieben werden, werden in den darauf folgenden Abschnitten Handlungsempfehlungen gegeben, die sich unter anderem aus den Erfahrungen vergangener und aktueller FfE-Projekte ableiten. Die Handlungsempfehlungen führen von der Idee zum Use Case, zum Feldversuch und schließlich zum Reallabor.

Übersicht zu wichtigen Schritten auf dem Weg von der Idee zum Use Case, zum Feldversuch und zum Reallabor.
Abbildung 1: Übersicht zu wichtigen Schritten auf dem Weg von der Idee zum Use Case, zum Feldversuch und zum Reallabor.

Was ist ein Reallabor?

In Reallaboren werden neue Innovationen und Geschäftsmodelle im realen Betrieb getestet. Dabei arbeiten Akteure aus Wissenschaft, Praxis und Zivilgesellschaft zusammen. Solche innovativen Projekte haben eine hohe Komplexität. Dies betrifft nicht nur technische und betriebswirtschaftliche Abläufe und Regulatorik, sondern insbesondere auch die Kommunikation in der Zusammenarbeit von Branchen, Technologien und Projektpartnern. Die reale Erprobung von Innovationen kann diese komplexe Zusammenarbeit abbilden. [1]

Zum Reallaborbegriff gib es verschiedene Definitionen. Zum Beispiel definiert das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) Reallabore als „zeitlich und räumlich begrenzte Testräume, in denen innovative Technologien oder Geschäftsmodelle unter realen Bedingungen erprobt werden“ [1]. Der Fokus liegt dabei auf der Nutzung rechtlicher Spielräume und einem damit verbundenen regulatorischen Erkenntnisinteresse. Dazu werden Experimentierklauseln genutzt, mit denen vom Gesetzgeber beispielsweise Ausnahmen von Verboten, Genehmigungen oder Nachweiserfordernissen für die Erprobung neuer Technologien ermöglicht werden.

Nach der Definition des BMWK sind Reallabore also zeitlich und räumlich begrenzte Experimente im realen Umfeld. Der Reallaborbegriff, der im Förderprogramm „Schaufenster intelligente Energie – Digitale Agenda für die Energiewende“ (SINTEG) verwendet wurde, geht über diese Definition hinaus. Hier wird das Reallabor insbesondere auch als Testraum verstanden, der durch transdisziplinäre Zusammenarbeit von Wissenschaft und Praxis übertragbare Lösungen schaffen und so einen Beitrag zur Nachhaltigkeitstransformation in einem gesellschaftlichen Problemfeld schaffen soll. Dabei wird auch die Zusammenarbeit mit der Zivilbevölkerung zur gemeinsamen Wissensproduktion hervorgehoben. [2]

Der SINTEG-Reallaborbegriff basiert auf Arbeiten des Wuppertal Instituts. In „Das Reallabor als Forschungsprozess und -infrastruktur für nachhaltige Entwicklung“ werden verschiedene Verständnisse des Reallaborbegriffs reflektiert. Außerdem werden, aufbauend auf Erfahrungen aus verschiedenen Reallabor-Projekten, Schlüsselkomponenten und Abläufe dargelegt, durch die die Akteure aus Wissenschaft und Praxis durch wiederholtes Reflektieren und Variieren eines Realexperiments Wissen produzieren. [3]

Der Reallaborbegriff geht also über den klassischen Feldtest hinaus, da im Reallabor nicht nur die technische Erprobung, sondern auch das Zusammenspiel verschiedener Disziplinen und Akteure im Vordergrund des Erkenntnisinteresses steht. Während in einem klassischen Feldtest nur technische Aspekte validiert werden, berücksichtigt ein Reallabor umfassender die realen Bedürfnisse und Anforderungen [2]. Feldtests können jedoch Bestandteile eines Reallabors sein. So beinhaltet das Reallaborprojekt unIT-e² verschiedene Feldtests, die in vier Cluster unterteilt sind.

Von der Idee zum Use Case

Wie kommt man nun von der Idee zum erfolgreichen Reallabor?  – Am Anfang eines Reallaborprojekts sollte immer die Use-Case-Entwicklung stehen. Sie schafft eine gemeinsame Sprache für den Austausch im Projekt, das Erkennen von Synergien und die schrittweise Produktentwicklung. Sie dient der Interoperabilität in einem vernetzten System vielfältiger Komponenten. Die FfE verfügt hierzu über einen großen Erfahrungsschatz aus Projekten wie unIT-e², C/sells, InDEED und BDL. Weitere Informationen zur Use-Case-Entwicklung finden Sie in der Beitragsreihe „Use-Case- und Geschäftsmodellentwicklung an der FfE“.

Die „Anwendungshilfe Use Case Methodik“ bietet eine praktische Anleitung in drei Schritten, um von der Idee über ein Grobkonzept, die Prozess- und Systembeschreibung und die Entwicklung der Ablaufspezifikation zum fertigen Use Case zu gelangen. [4]

Im ersten Schritt werden Business Use Cases ausgearbeitet, um eine Idee in ein Grobkonzept zu überführen. Dabei werden Rollen, Verantwortlichkeiten und Beziehungen unter den beteiligten Akteuren definiert und Geschäftsdienste, Prozesse sowie Geschäfts- und Handlungsnutzen für die beteiligten Akteure herausgearbeitet. Politische und gesetzliche Rahmenbedingungen werden ebenfalls berücksichtigt. Im zweiten Schritt wird im Rahmen der Prozess- und Systembeschreibung definiert, welche Komponenten notwendig sind, wie Abläufe ausgestaltet werden und welche Informationen ausgetauscht werden. Im dritten Schritt wird der zeitliche Ablauf der Prozesse ausgearbeitet und in Sequenzdiagramme überführt. Dabei werden auch bestehende Standards und Normen berücksichtigt.

Feldversuch

Ein Feldversuch (auch „Feldtest“ genannt) dient dem Test einer Innovation bzw. eines Prototypen unter realen Bedingungen. Im Gegensatz zur Erprobung in Labortests und Simulationen können hier Erkenntnisse zum Zusammenspiel der Verschiedenen beteiligten Komponenten und Akteure gewonnen werden. Im Projekt unIT-e² gibt es eine Vielzahl solcher Feldtests. Der „Leitfaden zur Durchführung von Feldversuchen im Elektromobilitätskontext“ gibt eine Übersicht der wichtigsten Punkte, die im Verlauf der Planung und Umsetzung der Feldtests in unIT-e² eine Rolle spielen.

Zunächst müssen sich die beteiligten Akteure auf Rahmendaten verständigen, also auf die Ziele, den Umfang, den Ort und die Dauer des Feldversuchs, sowie auf die Use Cases, die umgesetzt werden. Im Verlauf der Planung und der Umsetzung des Feldversuchs muss definiert werden, welche Rollen die verschiedenen Akteure jeweils im Feldtest innehaben. Dies schließt auch die Auswahl und Akquise geeigneter Pilotkunden ein. Dabei spielt die Ausgestaltung von Verträgen und eines Datenschutzkonzepts eine zentrale Rolle.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Ausarbeitung eines Messkonzepts. Die „Minimaldatensets zu Erhebung von Forschungsdaten in der Elektromobilität“ [5] für das Schaufensterprogramm Elektromobilität bieten hierzu eine Zusammenstellung von zu erhebenden Messdaten, um die Vergleichbarkeit der Ergebnisse aus verschiedenen Projekten sicherzustellen.

Zum Ende des Feldtests muss die bei den Pilotkunden verbaute Technik rückgebaut werden, was entsprechenden organisatorischen Aufwand erfordert. Die im Versuch aufgenommenen Messdaten werden ausgewertet und aufbereitet. Die Ergebnisse können, neben der Kommunikation an die interessierte (Fach-)Öffentlichkeit, in Normgebungsverfahren eingebracht werden.

Reallabor

Das „Handbuch für Reallabore“ des BMWK bietet eine Anleitung für die Umsetzung von Reallaboren [1]. Darin sind die wichtigsten Fragen aufgeführt, die sich Unternehmen, Forschende und Verwaltung bei der Planung und Umsetzung eines Reallabors stellen und beantworten sollten. Sie gliedern sich in die drei Bereiche „Vorbereitung und Planung“, „Rechtliche Aspekte“ und „Ausgestaltung und Umsetzung“.

Bei der Vorbereitung und Planung sollten dabei nicht nur die Ziele und die gezielte Einbindung der beteiligten Akteure berücksichtigt werden, sondern auch die verfügbaren Ressourcen und die Fördermöglichkeiten geprüft werden.

Rechtliche Aspekte spielen eine zentrale Rolle in der Vorbereitungs- und Planungsphase. Es müssen nicht nur rechtliche Hürden und mögliche Ausnahmeregelungen identifiziert werden, sondern auch Haftungsrisiken geklärt und abgesichert werden. Auf dem Weg zur Ausnahmeregelung können oftmals in Gesetzen verankerte Experimentierklauseln genutzt werden. Eine externe Rechtsberatung kann bei der Vorbereitung eines Reallabors erforderlich sein.

Bei der Ausgestaltung und Umsetzung eines Reallabors müssen zunächst Dauer und Standort passend gewählt werden. Dabei kann eine zeitliche Begrenzung bereits durch eine angewandte Experimentierklausel vorgegeben sein. Zuständigkeiten für Aufsicht und Evaluation müssen geklärt werden. Ein unabhängiger Auftragnehmer kann in diesem Zusammenhang vorteilhaft sein, um die Validität der Ergebnisse zu verbessern, indem beispielsweise strategisches Verhalten von am Projekt beteiligten Unternehmen besser identifiziert werden kann. Auf Grundlage von gemeinsam festgelegten Zielen des Reallabors müssen geeignete Indikatoren für die Evaluation festgelegt werden. Dafür muss mit den beteiligten Akteuren unter anderem auch geklärt werden, welche Daten erhoben und zur Verfügung gestellt werden. Schließlich muss auch geklärt werden, wie Ergebnisse gezielt genutzt werden – wer also innerhalb und außerhalb des Reallabors wann welche Ergebnisse erhält und wie mit ihnen umgegangen wird. Dies umfasst nicht nur die Öffentlichkeitsarbeit, sondern auch z.B. die Datenweitergabe an gesetzgebende Stellen zur Weiterentwicklung von Normen.

Fazit

Auf dem Weg zur Klimaneutralität sind Reallabore ein nützliches Tool, um Innovationen praxisnah zu erproben und dabei alle relevanten Akteure direkt mit in die wissenschaftliche Arbeit miteinzubeziehen. Es können dabei nicht nur Erkenntnisse über technische und betriebswirtschaftliche Abläufe und Regulatorik gewonnen werden, sondern auch über die Kommunikation zwischen den verschiedenen Akteuren bis hin zur Zivilbevölkerung. So wird die Praxistauglichkeit von neuen Technologien, Anwendungsfällen und Geschäftsmodellen auf den Prüfstand gestellt und gegebenenfalls durch deren Anpassung verbessert. Darüber hinaus kann durch die Zusammenarbeit und die Wissensvermittlung zwischen Wissenschaft, Praxis und Zivilgesellschaft die Akzeptanz für erprobte Innovationen und gefundene Lösungen bei den beteiligten Akteuren gestärkt werden.

In diesem Artikel wurden einige Handlungsempfehlungen skizziert, um von der Idee zum Use Case, zum Feldversuch und schließlich zum Reallabor zu gelangen. Weiterführende Informationen und detailliertere Handlungsempfehlungen finden Sie im Folgenden unter „Weitere Informationen“ sowie im Literaturverzeichnis.

Die dargestellten Inhalte entstanden im Projekt unIT-e². Das Forschungsprojekt wird durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) gefördert (Förderkennzeichen: 01MV21UN11 (FfE e.V.)). Träger des auf drei Jahre angelegten Verbundprojekts ist das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR).

Weitere Informationen

Literatur
[1] Freiräume für Innovationen – Das Handbuch für Reallabore. Berlin: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi), 2019.

[2] Widl, Edmund et al.: Pionier für Reallabore – Synthesebericht 4 des SINTEG-Förderprogramms. Berlin: Studie im Auftrag des BMWK, 2022.

[3] Rose, Michael et al.: Das Reallabor als Forschungsprozess und -infrastruktur für nachhaltige Entwicklung. Konzepte, Herausforderungen und Empfehlungen – 2. aktualisierte und erweiterte Auflage. Wuppertal: Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie gGmbH, 2019.

[4] Faller, Sebastian et al.: Anwendungshilfe Use Case Methodik – Eine praktische Anwendungshilfe für die Use Case Entwicklung. München: Forschungsstelle für Energiewirtschaft e. V. (FfE), 2020.

[5] Harendt, Bertram et al.: Minimaldatensets zur Erhebung von Forschungsdaten in der Elektromobilität – Ergebnisse aus den regionalen Demonstrationsvorhaben in der Elektromobilität. Aachen, Berlin, Frankfurt am Main: Deutsches Dialog Institut GmbH, Ingenieurgruppe IVV GmbH & Co. KG, NOW GmbH Nationale Organisation Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie, 2017.