26.06.2023

Norwegen und die Doppelvermarktung erneuerbarer Energien

Das System der Herkunftsnachweise an seinen Grenzen?

Das Wissen über die Stromherkunft und die damit einhergehenden Treibhausgasemissionen ist ein wichtiger Pfeiler der Energiewende. Herkunftsnachweise (HKN) sind heute in Deutschland und Europa das zentrale Instrument, um Strom aus erneuerbaren Energien im Rahmen der Stromkennzeichnung nachzuweisen. Laut Artikel 19 der EU-Richtlinie 2018/2001 (RED II) sollen HKN beim Nachweis gegenüber Endkunden dazu dienen, dass die Herkunft von Elektrizität „gemäß objektiven, transparenten und nicht diskriminierenden Kriterien garantiert werden kann“ [1]. HKN können nicht nur innerhalb der EU gehandelt werden, sondern auch in weiteren Ländern. Denn HKN-Handel und Stromhandel sind voneinander unabhängig. Es besteht kein physischer Bezug zwischen Erzeugern und Verbrauchern von HKN, das heißt weder eine physische Leitung muss vorhanden sein, noch muss der HKN in der Stunde der Erzeugung entwertet werden. Somit können ungeachtet tatsächlicher Leitungsverbindungen oder Im- und -Exporten von Strom beispielsweise isländische und norwegische HKN in die EU exportiert werden. Das heißt, die erneuerbare Eigenschaft einer im Sommer aus Wasserkraft in Norwegen produzierten MWh kann für im Winter des gleichen Jahres in Deutschland verbrauchten Strom entwertet werden. Ein Großteil der in Deutschland zur Stromkennzeichnung verwendeten HKN stammen aus norwegischer Wasserkraft [2].

Die oben genannte Richtlinie sowie bilaterale Abkommen geben den EU-Mitgliedsstaaten und teilnehmenden Drittländern explizit vor, dass sie die Doppelzählung von Energie aus erneuerbaren Quellen zu unterbinden haben. Kürzlich wurde allerdings die Doppelvermarktung von Herkunftsnachweisen für erneuerbaren Strom in Island bekannt, weshalb die verwaltende transnationale Institution AIB (Association of Issuing Bodies) einen Exportstopp für isländische HKN verhängt hat [3].

Ein Rechtsgutachten im Auftrag des österreichischen Stromkonzerns Verbund soll auch Hinweise auf Doppelzählungen von norwegischem Ökostrom gefunden haben [3].

Wie funktioniert das System der HKN und wie konnte es zur Doppelvermarktung der HKN in Island kommen? Ist in Norwegen und anderen Ländern eine ähnliche Doppelvermarktung möglich? Und welche Auswirkungen könnte dies auf den deutschen Markt haben? Diesen Fragen werden wir in diesem Artikel nachgehen.

Das HKN-System steht in Deutschland und Europa vor wachsenden Herausforderungen in einem zunehmend erneuerbaren Energiesystem. Durch neue EU-Regulatorik, z. B. für die Kennzeichnung grünen Wasserstoffs und die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen könnte HKN ein Bedeutungswandel zukommen – weg von der bloßen Kennzeichnung von Energiemengen gegenüber Letztverbrauchern hin zu einem System, das Anreize für den Ausbau erneuerbarer Energien schafft. Dies geschieht beispielsweise dadurch, dass neue Anforderungen an Gleichzeitigkeit, Zusätzlichkeit und räumlichen Zusammenhang gestellt werden. Beispielsweise muss die Erzeugung und der Verbrauch eines HKN in derselben Stunde von einer neu bzw. zusätzlich gebauten Anlage in derselben Regelzone erfolgen.  In unserer Veröffentlichungsreihe „Zukunftsfähige Herkunftsnachweise“ finden Sie Grundlagen zum HKN-System in Deutschland, Analysen zu den wachsenden Herausforderungen, sowie Lösungsansätze für ein Ende-zu-Ende-digitalisiertes, zukunftsfähiges HKN-System.

Herkunftsnachweise – ein marktbasierter Mechanismus

In den letzten Jahrzehnten führte der voranschreitende Klimawandel zu einem erhöhten politischen und gesellschaftlichen Willen, fossile Energieträger durch erneuerbare Energien zu ersetzen. Da sich jegliche ins Stromnetz eingespeiste elektrische Energie miteinander vermischt und einen physischen Nachweis der Herkunft einzelner Energiemengen unmöglich macht, sind verschiedene Systeme des Handels mit Herkunftsnachweisen (HKN) entstanden. Im europäischen Raum existiert ein staatenübergreifendes, einheitliches System, in dem HKN oder „Guarantees of Origin“ genannte Zertifikate gehandelt werden können und das von der AIB [4] verwaltet wird. Ein Herkunftsnachweis ist dabei der institutionell abgesicherte Nachweis, dass eine Einheit elektrischer Energie (standardmäßig eine Megawattstunde, 1 MWh) aus einer bestimmten Produktionsform stammt, meist aus einer erneuerbaren Quelle. Auf diese Weise kann umweltfreundlicher Grünstrom sowohl nachgewiesen als auch zusätzlich vergütet werden [5]. Diese Vergütung entsteht aus der Möglichkeit für Stromproduzenten, ihre erzeugten HKN zu verkaufen. Dadurch sollen Investitionsanreize für erneuerbare Energien entstehen. Unternehmen und Privatstromanbieter können über das HKN-System virtuelle Nachweise für Strom aus erneuerbaren Quellen erwerben und in ihren Bilanzen verbuchen, selbst wenn dies durch den tatsächlichen Strommix im lokalen Netz nicht möglich wäre. Unternehmen können somit ihre Nachhaltigkeitsziele erreichen sowie mit nachhaltig erzeugten Produkten werben. Privatpersonen können auf diese Weise Ökostromtarife bei einem Stromanbieter ihrer Wahl abschließen.

Der Handel mit HKN ist unabhängig vom physikalischen Stromfluss. Es gibt für HKN neben bilateralen Handelsbeziehungen und „over-the-counter“ Handel einen eigenen Markt mit eigener Preisbildung, der unabhängig vom Handel mit Strommengen ist. Zentral ist, dass der Handel mit Nachweisen innerhalb des gesamten HKN-Marktes möglich ist. So können beispielsweise HKN aus den Ländern des europäischen Wirtschaftsraums nach Deutschland importiert werden, zu denen auch Island und Norwegen gehören. Ein Einkauf von HKN bedeutet weder, dass der aus dem Stromnetz bezogene Strom tatsächlich grün ist, noch, dass eine physische Leitungsverbindung zwischen HKN-Käufer und Verkäufer bestehen muss. Damit die Summe der erzeugten HKN nicht die Summe der gekauften HKN übersteigt, darf jeder Nachweis nur einmal für die Stromkennzeichnung entwertet werden und verliert danach seine Gültigkeit.

Für Stromverbraucher gibt es drei zentrale Möglichkeiten, den verbrauchten Strom und die damit einhergehenden Emissionen zu bilanzieren. Erstens können Unternehmen den ortsbasierten Strommix in ihrer Bilanz verrechnen. Dabei wird die tatsächliche physische Zusammensetzung des Stroms im lokalen Stromnetz des Verbrauchers angegeben. Zweitens können Unternehmen ihren Stromverbrauch und ihre Emissionen marktbasiert bilanzieren und dafür HKN entwerten lassen. Nur wenn die gesamte Strommenge mit entwerteten HKN gedeckt ist, kann sie als Grünstrom vermarktet werden. Drittens können Unternehmen marktbasiert bilanzieren, aber keine Herkunftsnachweise für ihren Strom kaufen. Da in diesem Falle die erneuerbare Herkunft des Stroms (nachgewiesen in Form von HKN) vom physischen Strom getrennt ist, muss für den Strom ein anderer Strommix in der Bilanzierung verrechnet werden. Dieser Residual-Mix genannte Strommix wird aus dem lokalen Strommix, den im- und exportierten Strommengen, sowie der Anzahl ausgestellter, entwerteter und verfallener HKN berechnet. In Norwegen enthält der Residual-Mix für eine marktbasierte Bilanzierung lediglich 15 % erneuerbare Energien und somit deutlich weniger als der ortsbasierte Strommix, der zu 99 % aus erneuerbaren Energien stammt. Eine detaillierte Berechnung des norwegischen Residual-Mixes wird in der norwegischen Elektrizitätsoffenlegung dargestellt [6]. In Deutschland wird aufgrund des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) der Residual-Mix etwas anders berechnet. Hier wird der ENTSO-E Energieträgermix verwendet, wobei dieser von EEG-gefördertem sowie HKN-Strom bereinigt wird [7].

Für eine marktbasierte Quantifizierung indirekter Emissionen aus eingekaufter Energie in der Unternehmensberichtserstattung nach dem Greenhouse Gas (GHG)-Protokoll können somit ausschließlich Stromprodukte als 100 % erneuerbar bilanziert werden, für die zu 100 % HKN entwertet wurden. Hierbei werden im Kontext der von der EU-Kommission ausgerufenen „Agenda European Green Deal“ [8] und der „Sustainable Finance Strategy“ [9] mit der „Corporate Sustainability Reporting Directive” (CSRD) [10], „Sustainable Finance Disclosure Regulation“ (SFDR) [11] und der EU-Taxonomie [12] neue Regularien auf die Unternehmen zukommen.

Doppelvermarktung in Island – marktbasierte vs. ortsbasierte Emissionsbilanzierung

Island produziert seinen Strom zu 100 % aus erneuerbaren Energiequellen und exportierte zuletzt ca. 79 % der dafür ausgestellten HKN in die EU (siehe Abbildung 1) [13]. Ein physischer Austausch von Strom findet jedoch nicht statt – Island und die EU haben keine Leitungsverbindung zueinander [14]. In Island werben jedoch trotz dieses Exports der HKN die drei großen Aluminiumhütten des Landes, die ca. 63 % des isländischen Stroms verbrauchen, mit grünem Aluminium, hergestellt mit erneuerbarer Energie [3]. Dabei basieren die Unternehmen ihre Aussagen auf den physischen Strommix im isländischen Stromnetz, der tatsächlich ausschließlich aus erneuerbaren Quellen stammt.

Die indirekten Emissionen, die bei der Aluminiumherstellung verursacht werden, werden somit nach der ortsbasierten Methode quantifiziert, statt nach der oben beschriebenen, marktbasierten Methode. Wie in Abbildung 1 zu sehen, führt diese Verbuchung des Grünstroms im lokalen Netz bei gleichzeitigem Verkauf der HKN nach Europa durch die isländischen Aluminiumhütten zu einer Doppelvermarktung der HKN [3]. Für die erzeugten grünen Strommengen (19 TWh), die auch von den Aluminiumhütten als Argument für grüne Produktion herangezogen werden (12 TWh), können in Form von Herkunftsnachweisen irgendwo in Europa (z. B. in Deutschland) ebenfalls für dieses Argument verwendet werden (15 TWh). Hier jedoch im Rahmen der marktbasierten Bilanzierung. Dies stellt eine klassische Doppelvermarktung dar, in diesem Fall von HKN für 8 TWh Strom. Diese Doppelvermarktung führte letztendlich zu einem Exportverbot isländischer HKN durch die AIB im April 2023 [15].

Dieses Exportverbot wurde jedoch Anfang Juni durch die AIB zurückgezogen, da die isländische Behörde Landsnet auf gutem Weg sei, die Anforderungen umzusetzen [27].

Island Herkunftsnachweise Doppelvermarktung Strom
Abbildung 1: Darstellung der Doppelvermarktung von Grünstrom im Falle Islands im Jahr 2021. Eigene Darstellung, Daten aus [3]

Norwegen – ein ähnlicher Fall?

Durch das Offenlegen der isländischen Doppelvermarktung ist nun auch Norwegen in den Fokus gerückt. Wie in Island enthält der lokale Strommix in Norwegen nahezu vollständig Strom aus erneuerbaren Energien, vor allem aus Wasserkraft. Gleichzeitig exportiert Norwegen 79 % der dadurch erzeugten HKN nach Europa [6] und besitzt energieintensive Industrien wie Aluminium-, Zement-, Chemie und Papierproduktion. Außerdem ist der Stromverbrauch im privaten Sektor und im Dienstleistungssektor hoch, da nahezu alle Gebäude mit Strom beheizt werden [16].

Durch die Mitgliedschaft Norwegens im HKN-Handelssystem der AIB sind alle norwegischen Unternehmen verpflichtet, HKN über ihren Stromanbieter entwerten zu lassen, wenn sie den bei diesem eingekauften Strom und die damit hergestellten Produkte als grün vermarkten möchten. Dass diese Zusatzkosten vielen norwegischen Unternehmen unlieb sind, zeigte sich auch in Überlegungen Norwegens, im Jahr 2021 aus dem HKN-Handelssystem auszusteigen. Dieses Vorhaben wurde beispielsweise von Norwegens größtem Aluminiumhersteller und Stromverbraucher Norsk Hydro unterstützt [17].

Während in Island der Stromverbrauch und das Werbeverhalten der drei größten Unternehmen ausreichten, um auf die landesweite Doppelvermarktung von Grünstrom schließen zu können, ist die Lage in Norwegen komplexer. Norwegen hat ein deutlich höheres Gesamtvolumen an erzeugten und entwerteten HKN sowie einen fast acht Mal höheren Stromverbrauch als Island. Der Anteil einzelner Großverbraucher am Gesamtstromverbrauch ist in Norwegen wesentlich geringer als in Island.

Anhand der zuvor genannten HKN-Nettoexportquote Norwegens von 79 % ist jedoch ersichtlich, dass lediglich 21 % der in Norwegen ausgestellten HKN für die Stromkennzeichnung im eigenen Land verbleiben und dort entwertet werden können. [6] Aufgrund der Überproduktion von Strom in Norwegen entsprechen 21% der HKN etwa 23% des heimischen Stromverbrauchs. Da beispielweise der Stromverbrauch der gesamten norwegischen Fertigungsindustrie bei über 47% liegt [18], dürfte lediglich knapp die Hälfte der Industrie mit grünen Produkten werben (und müsste dafür alle HKN des Landes entwerten).

Die größten Stromverbraucher und der Mangel an heimischen HKN

Nach unserer Analyse des Energieverbrauchs und des Werbeverhaltens der fünf größten Einzelstromverbraucher Norwegens erscheint eine Doppelvermarktung von HKN höchst wahrscheinlich. Alle fünf sind weltweit agierende Unternehmen aus der Grundstoffindustrie, die relevante Anteile ihrer stromintensiven Produktion in Norwegen betreiben. Der summierte Stromverbrauch dieser fünf Unternehmen betrug in Norwegen im Jahr 2021 ca. 30 TWh, 21% des gesamten norwegischen Stromverbrauchs. Gleichzeitig werben alle fünf Unternehmen massiv mit nachhaltigen Unternehmensstrategien, grünen Endprodukten und Strom aus norwegischer Wasserkraft. Auch geben die Unternehmen, basierend auf einer örtlichen Berechnung der Emissionen nach dem GHG Protocol, sehr geringe Scope 2 Emissionen an. Das GHG Protocol ist ein weit verbreiteter Standard zur Emissionsbilanzierung. Norwegische erneuerbare Energie in Form von Wasserkraft ist somit für alle fünf Unternehmen zentral – für die Unternehmensberichtserstattung und die öffentliche Werbung.

Dass die Unternehmen die ortsbasierte Emissionsrechnung über den physischen Strommix im norwegischen Netz bevorzugen, begründet sich wahrscheinlich primär daraus, dass eine marktbasierte Emissionsrechnung für die Unternehmen deutlich schlechter ausfallen würde. Das GHG Protocol erlaubt die Bilanzierung bezogenen Stromes, sowohl marktbasiert über HKN als auch über den lokalen physischen Strommix. Wie oben beschrieben liegt der Anteil erneuerbarer Energien im Residual-Mix Norwegens bei 15% und der Anteil erneuerbarer Energien im lokalen Strommix bei 99%. Die Größe dieses Unterschieds liegt an dem einerseits nahezu ausschließlich erneuerbaren physischen Strommix in Norwegen und andererseits an der hohen HKN-Exportquote des Landes.

Unabhängig von den Reporting-Richtlinien des GHG Protocol ist die oben beschriebene ortsbasierte Verrechnung der Emissionen aus Sicht der AIB regelbrechend, sobald der verbrauchte Strom anderweitig marktbasiert verrechnet wird. Die AIB hat dies in ihrer Pressemitteilung zu Island deutlich gemacht [15]. Da Norwegen am europäischen HKN-Handel teilnimmt, müssen auch die fünf betrachteten norwegischen Unternehmen diesen Vorgaben entsprechen.

Alle fünf untersuchten Unternehmen nutzen eine ortsbasierte Emissionsbilanzierung und geben dabei explizit an, dass sie zu 100% Strom aus erneuerbarer norwegischer Wasserkraft nutzen. Damit hier keine Doppelvermarktung vorliegt, müsste auch eine marktbasierte Emissionsbilanzierung der Unternehmen zu 100% erneuerbare Energien nachweisen. Marktbasiert lässt sich dies ausschließlich erreichen, indem die Unternehmen ihren gesamten Stromverbrauch mit HKN decken. Zwar treffen die Unternehmen dazu keine Aussagen, jedoch lässt sich rechnerisch überprüfen, ob angesichts der hohen Exportquote norwegischer HKN dort überhaupt genügend HKN für die Stromkennzeichnung zur Verfügung stehen.

Im Jahr 2021 wurden in Norwegen HKN für 29,4 TWh Strom entwertet [19], der Rest wurde exportiert oder ist verfallen. Um keine doppelt gezählten Grünstrommengen zu enthalten, müssten die oben genannten 30 TWh Stromverbrauch der fünf norwegischen Unternehmen mit den HKN für 29,4 TWh gedeckt werden. Dies ist offensichtlich nicht möglich. Dass eine solche Diskrepanz bereits in einer Stichprobe von fünf Unternehmen zu Tage tritt, weist auf eine Doppelvermarktung von Grünstrom ähnlich wie in Island hin.

Welchen Einfluss hätte ein weiterer Exportstopp auf Deutschland?

Falls sich eine Doppelvermarktung der HKN in Norwegen offiziell nachgewiesen würde, müsste ein Exportverbot wie im Falle Islands diskutiert werden. Sollte es zu einem Exportstopp norwegischer HKN durch die AIB kommen, hätte dies Auswirkungen auf die anderen Mitgliedsstaaten des Handelssystems, darunter auch Deutschland. Da Norwegen mit 20% den höchsten Marktanteil am europäischen HKN-Angebot hat [20] würde ein Exportverbot das Angebot im gesamten Marktgebiet beträchtlich verringern und zu einem Anstieg der Preise für HKN führen. Da in Deutschland fast die Hälfte der Herkunftsnachweise aus Norwegen stammt [2] und Deutschland der größte Importeur norwegischer Zertifikate ist, wäre Deutschland auch am stärksten von einem Exportverbot betroffen. Den gleichen Verknappungseffekt hätte ein möglicher proaktiver Ausstieg Norwegens aus dem HKN-Handelssystem [21]. In beiden Fällen könnte, über den Zweck der Stromkennzeichnung hinausgehend, durch den Handel mit HKN ein zusätzlicher Investitionsanreiz für den Zubau von Grünstrom-Erzeugungsleistung entstehen. In der Vergangenheit war der HKN-Handel aufgrund der niedrigen Marktpreise „kein messbarer Treiber für Investitionsentscheidungen“ [2].

Fazit

Da in Island produzierter Grünstrom in großem Umfang doppelt vermarktet wurde, untersagte die AIB im April 2023 den Export von isländischen HKN. Ähnlich wie in Island gibt es norwegische Unternehmen, die indirekte Emissionen ortsbasiert bilanzieren. Ein Rechtsgutachten soll Hinweise auf Doppelzählungen von norwegischem Ökostrom gefunden haben [3]. In einer Stichprobenartigen Untersuchung von Werbebotschaften und Unternehmensberichten großer norwegischer Stromverbraucher fanden wir ebenfalls Hinweise auf Doppelvermarktung von Grünstrom.

Bislang hat die AIB keine Maßnahmen gegen eine mögliche Doppelvermarktung von Grünstrommengen aus Norwegen bekanntgegeben. Nach dem Fall Island liegt ein konsequentes Vorgehen gegenüber Norwegen allerdings nahe. Ein Exportverbot norwegischer HKN würde das Angebot auf dem europäischen Markt stark verknappen. Insbesondere mit großen Risiken für den größten europäischen Herkunftsnachweisimporteur Deutschland.

Einerseits würde ein Exportverbot norwegischer HKN hierzulande wohl zu einem spürbaren Preisanstieg für Ökostrom führen. Hohe HKN-Preise könnten andererseits auch einen zusätzlichen Investitionsanreiz für den Zubau von Grünstrom-Erzeugungsleistung in Deutschland und anderen europäischen Ländern bieten. Hierzu wäre allerdings die Aufhebung des „Doppelvermarktungsverbots“ nach §80 EEG erforderlich, nach dem an EEG-geförderte Erzeugungsanlagen keine HKN ausgestellt werden. Die EEG-Förderung wird bei Neuanlagen während der ersten 20 Betriebsjahre in der Regel in Anspruch genommen.

Das Vorgehen gegen die Doppelvermarktung von Grünstrom ist von großer Bedeutung für die Energiewende in den verschiedenen Sektoren des Energiesystems. So besteht nach dem „Delegated Act“ [22] zur RED II beispielsweise bei der Produktion von Wasserstoff mit Strom aus Netzbezug die Möglichkeit, diesen als „grün“ zu kennzeichnen, sofern sich der Elektrolyseur in einer Gebotszone befindet, deren Strommix zu mindestens 90 % aus erneuerbaren Energien besteht. Sofern die Berechnung des Strommixes nach der ortsbasierten Methode erfolgen kann, besteht hier die Gefahr, dass die Strommengen, die mittels HKN als Grünstrom vermarktet werden, doppelt gezählt werden.

Insgesamt kann ein strikteres Vorgehen gegen Doppelvermarktung von Ökostrom die Chance bieten, dass das HKN-System seinen Ruf des „ökologischen Ablasshandels“ [23], [24], [25], [26] hinter sich lässt und stattdessen in Zukunft messbar zum Gelingen der Energiewende beiträgt.

Ausblick und mögliche Verbesserungen des HKN-Systems

Damit das HKN-System effektiv zur Lösung der Herausforderungen eines sich im Wandel befindlichen, zunehmend erneuerbaren Energiesystems beitragen kann, halten wir eine umfassende Überarbeitung für notwendig. Ein zentraler Schritt ist dabei die europaweite Vereinheitlichung der Emissionsbilanzierung sowie der Richtlinien für Werbung mit erneuerbarer Energie, entweder einheitlich ortsbasiert oder einheitlich marktbasiert. Auf diese Weise könnte HKN-Doppelvermarktung zuverlässig erkannt und unterbunden werden. Gleichzeitig halten wir eine Analyse des europaweiten Status quo für notwendig, um eventuelle Doppelvermarktungsfälle in anderen Ländern aufzudecken und um eine Basis für die Transformation des HKN-Systems zu schaffen.

Auch die physikalischen Randbedingungen wie die maximal mögliche Übertragungskapazität sollten berücksichtigt werden. Außerdem sollte die Kopplung von HKN an die gehandelten Strommengen vereinfacht werden. Aktuell existiert zwar die Möglichkeit, die „optionale Kopplung“ nach § 30a der Herkunfts- und Regionalnachweis-Durchführungsverordnung (HkRNDV) im HKN vermerken zu lassen. So können, z.B. in einem Power Purchase Agreement (PPA), Strommengen zusammen mit daran gekoppelten HKN erzeugt, übertragen und entwertet werden. Da dafür heute jedoch eine aufwendige Prüfung durch einen Umweltgutachter notwendig ist, wird diese kaum angewandt.

Im europaweiten Stromnetz müssen Erzeugung und Verbrauch des physischen Stroms zu jedem Zeitpunkt ausgewogen sein. Das HKN-System sollten diese zeitliche und räumliche Kopplung von Erzeugung und Verbrauch abbilden, anstatt es zuzulassen, dass Strom für einen Verbrauchszeitraum mit HKN grün gefärbt wird, die an anderen Orten zu anderen Zeiten generiert wurden. Eine Ende-zu-Ende-digitalisierte, echtzeitnahe Stromkennzeichnung macht diese Kopplung möglich. Durch eine höhere zeitliche Auflösung von HKN als derzeit ein Monat sowie einen kürzeren Bilanzierungszeitraum als ein Kalenderjahr wird erreicht, dass für jede verbrauchte Einheit „Ökostrom“ tatsächlich, z.B. innerhalb einer Stunde, eine mengengleiche Einspeisung von Strom aus erneuerbaren Energien nachgewiesen werden kann. Die Zertifikatsgröße von 1 MWh müsste entsprechend verkleinert werden, um auch Betreibern kleiner Anlagen zu ermöglichen, die erneuerbare Eigenschaft des eingespeisten Stroms über das HKN-System nachzuweisen. So können in einem automatisierten, digitalisierten HKN-System Erzeugung und Verbrauch von Grünstrom beispielsweise über Smart Meter erfasst und einander zugeordnet werden. Im Projekt InDEED wurde eine energiewirtschaftliche Datenplattform erarbeitet, die eine hochaufgelöste, transparente und manipulationsresistente Zuordnung von Erzeugung und Verbrauch ermöglicht. Um zu zeigen, dass die Plattform einen realen Beitrag zur Energiewende leisten kann, erfolgt aktuell eine praktische Umsetzung im Zuge eines Pilot-Tests.

Die dargestellten Inhalte entstanden im Projekt InDEED. Das Forschungsprojekt wird durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) gefördert (Förderkennzeichen: 03EI6026A und 03EI6026B).

Weitere Informationen

 

Literatur

[1] Richtlinie EU 2018/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2018 zur Förderung und Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen (RED II). Ausgefertigt am 2018-12-11, Version vom 2018-12-21; Brüssel: Europäisches Parlament und Rat, 2018.
[2] Hauser, Eva et al.: Marktanalyse Ökostrom II – Marktanalyse Ökostrom und HKN, Weiterentwicklung des Herkunftsnachweissystems und der Stromkennzeichnung. Saarbrücken: IZES gGmbH, 2019.
[3] Böck, Hanno: Islands Ökostromzertifikate werden nicht mehr anerkannt. In https://www.golem.de/news/erneuerbare-energien-islands-oekostromzertifikate-werden-nicht-mehr-anerkannt-2305-174011.html. (Abruf am 2023-6-7); Berlin: Golem Media GmbH, 2023.
[4] Home | AIB. In https://www.aib-net.org/. (Abruf am 2023-6-07); Brüssel: Association of Issuing Bodies, 2023.
[5] Fuel Mix Disclosure. In https://www.aib-net.org/certification/uses-certificates/fuel-mix-disclosure. (Abruf am 2023-6-07); Brüssel: Association of Issuing Bodies, 2023.
[6] Electricity disclosure. In https://www.nve.no/energy-supply/electricity-disclosure/. (Abruf am 2023-6-07); Oslo: Norwegian Water Resources and Energy Directorate (NVE), 2020.
[7] Leitfaden Stromkennzeichnung. Berlin: BDEW Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e.V., 2022.
[8] The European Green Deal. Ausgefertigt am 2019-12-11; Brussels, Belgium: European Commission, 2019.
[9] Action Plan: Financing Sustainable Growth. Brussels: European Commission, 2018.
[10] Proposal for a Directive of the European Parliament and Council amending 2013/34/EU, Directive 20004/109/EC, Directive 2006/43/EC and Regulation (EU) No 537/2014, as regards corporate sustainability reporting (Proposal Corporate Sustainability Reporting Directive). Ausgefertigt am 2021-04-21; Brussels: European Commission, 2021.
[11] Regulation (EU) 2019/2088 on sustainability-related disclosures in the financial services sector (Sustainable Finance Disclosures Regulation (SFDR)). Ausgefertigt am 2019-11-27; Brussels: European Union, 2019.
[12] REGULATION (EU) 2020/852 OF THE EUROPEAN PARLIAMENT AND OF THE COUNCIL of 18 June 2020 on the establishment of a framework to facilitate sustainable investment, and amending Regulation (EU) 2019/2088 (EU Taxonomy Regulation). Ausgefertigt am 2018-06-20; Brussels: European Union, 2020.
[13] Activity statistics. In https://www.aib-net.org/facts/market-information/statistics/activity-statistics-all-aib-members. (Abruf am 2023-6-07); Brüssel: Association of Issuing Bodies, 2023.
[14] ENTSO-E Transmission System Map. In https://www.entsoe.eu/data/map/. (Abruf am 2023-6-07); Brüssel: ENTSO-E, 2023.
[15] AIB Press release – 27 April 2023 Regarding the compliance assessment of Landsnet’s possible breach of EECS Rules N9.1.1, A2.1.2, C3.3.1 and E3.3.14. Brüssel: Association of Issuing Bodies, 2023.
[16] Energy use by sector. In https://energifaktanorge.no/en/norsk-energibruk/energibruken-i-ulike-sektorer/. (Abruf am 2023-6-07); Oslo: Norwegian Ministry of Petroleum and Energy, 2021.
[17] Moestue, Herman: Regjeringen vil trekke Norge ut av GO-markedet. In https://www.montelnews.com/no/news/1264244/regjeringen-vil-trekke-norge-ut-av-go-markedet. (Abruf am 2023-6-07); Oslo: Montel AS, 2021.
[18] Net consumption of electricity in Norway in 2021, by consumer group: https://www.statista.com/statistics/1025137/net-consumption-of-electricity-in-norway-by-user/; New York: Statista, Inc., 2023.
[19] Annual statistics per Transaction type: https://www.aib-net.org/sites/default/files/assets/facts/market%20information/statistics/activity%20statistics/202303%20AIB%20Statistics%20new%20format.xlsx; Brüssel: Association of Issuing Bodies, 2023.
[20] EPICO & Aurora Energy Research: Herkunftsnachweise für grüne Energie – Granulare Grünstromvermarktung für eine marktbasierte Energiewende. Berlin: Konrad-Adenauer-Stiftung e. V., 2022.
[21] Herkunftsnachweise als Wertkomponente nutzen!. Berlin: Deutsche Energie-Agentur GmbH (dena), 2022.
[22] Commission Delegated Regulation (EU) 2023/1184 of 10 February 2023 supplementing Directive (EU) 2018/2001 of the European Parliament and of the Council by establishing a Union methodology setting out detailed rules for the production of renewable liquid and gaseous transport fuels of non-biological origin (C/2023/1087). Ausgefertigt am 2023-06-20, Version vom 2023; Brüssel: Europäische Komission, 2023.
[23] Grüne Energie als Treiber der unternehmerischen Klimaschutzstrategie. In https://www.climatepartner.com/de/gruene-energie-als-treiber-der-unternehmerischen-klimaschutzstrategie. (Abruf am 2023-2-16); München: ClimatePartner GmbH, 2021.
[24] Huckestein, Burkhard: Der Weg zur treibhausgasneutralen Verwaltung – Etappen und Hilfestellungen. Dessau-Roßlau: Umweltbundesamt, 2020.
[25] So erkennst du Greenwashing von Unternehmen. In https://www.polarstern-energie.de/magazin/artikel/so-entlarvst-du-greenwashing/. (Abruf am 2023-2-16); München: Polarstern GmbH, 2022.
[26] Bogensperger, Alexander: Zukunftsfähige Herkunftsnachweise – Roadmap zur Weiterentwicklung. München: Forschungsstelle für Energiewirtschaft e.V. (FfE), 2023.
[27] Press release – 1 June 2023 – Regarding the compliance assessment of Landsnet’s possible breach of the EECS Rules