13.11.2023

Strategisches Bieten auf Flexibilitätsmärkten

Die derzeitige Transformation des Energiesystems mit der volatilen Einspeisung erneuerbarer Energien und der Elektrifizierung der Nachfrage führt zu einer zunehmenden Belastung des Stromnetzes. Während konventionelle Kraftwerke aufgrund von Abschaltungen nicht mehr für das Engpassmanagement zur Verfügung stehen, sind die Opportunitätskosten kleiner Anlagen und Lasten oft unbekannt, so dass sie in den herkömmlichen Redispatch-Prozessen nicht berücksichtigt werden. Als eine mögliche Lösung wurden in letzter Zeit marktbasierte Flexibilitätsmechanismen evaluiert, um das Flexibilitätspotenzial von kleinen Erzeugungsanlagen und lastseitiger Flexibilität zu nutzen. Im Rahmen des unIT-e²-Forschungsprojekts untersuchen wir zum Beispiel Möglichkeiten, die Flexibilität von Elektrofahrzeugen und Wärmepumpen für den Redispatch über kommerzielle Aggregatoren zu nutzen. Bei marktbasierten Redispatch-Mechanismen besteht jedoch die Sorge, dass sie Anreize für eine Form des strategischen Bieterverhaltens bieten, die als „Increase-Decrease (Inc-Dec) Gaming“ bezeichnet wird. Die Anbieter von Flexibilität erwarten dabei einen Preis auf dem Flexibilitätsmarkt, der günstiger ist als der Preis auf dem Spotmarkt und passen ihre Gebote auf dem Spotmarkt entsprechend an. Als mögliche Folgen werden eine Zunahme von Netzengpässen, steigende Kosten des Netzbetreibers für die Flexibilitätsbeschaffung und unerwünschte Investitionsanreize diskutiert.

Das Problem verstehen mit dem interaktiven Gaming-Dashboard

Um die Problematik für verschiedene Engpasssituationen sowohl mit erzeugungs- als auch lastseitigen Flexibilitäten zu verbildlichen und als Grundlage für Diskussionen im Projektkonsortium, haben wir an der FfE ein entscheidungstheoretisches Modell aus Akteursperspektive aufgebaut, bei dem die Flexibilitätsanbieter ihr Gebot am Spot- und am Redispatchmarkt profitmaximierend aufeinander abstimmen. Das Modell wurde eingebettet in ein interaktives Dashboard, das den Nutzer:innen erlaubt, eigene Szenarien, Marktdesignentscheidungen und Mitigationsstrategien hinsichtlich ihrer Auswirkungen in puncto Inc-Dec Gaming zu überprüfen.

Abbildung 1: Exemplarische Nachfragesituation mit Gaming-Anreizen

Damit lassen sich beispielsweise auch Risiken nachvollziehen, die mit dem strategischen Bieten verbunden sind. Nehmen wir eine Last an (beispielsweise die Flotte Elektrofahrzeuge aus der Abbildung), deren wahre Zahlungsbereitschaft über dem Spotmarktpreis liegt: Wird sie auf dem Spotmarkt bezuschlagt, bedeutet das für die Last folglich einen Wohlfahrtsgewinn (Konsumentenrente). Gilt zusätzlich, dass die Last in einem Netzgebiet liegt, das wegen einer hohen Durchdringung erneuerbarer Erzeuger häufig einspeisebedingte Engpässe verzeichnet, so kann sie bei Antizipation eines solchen Engpass darauf hoffen, die Energie im Rahmen einer Redispatch-Maßnahme günstiger zur Verfügung gestellt bekommen, als es auf dem Spotmarkt der Fall ist. Sie hat damit einen Anreiz auf dem Spotmarkt ihre wahre Zahlungsbereitschaft vorsätzlich nach unten zu korrigieren oder überhaupt kein Gebot abzugeben. Sollte sich der Engpass jedoch nicht manifestieren, kann sie auch über den Redispatch Markt keine Energie mehr beziehen, sodass sie gegenüber dem wahrheitsgemäßen Bieten am Spotmarkt einen Wohlfahrtsverlust hinnehmen muss.

Was kann man dagegen tun?

Die Modellrechnungen haben gezeigt, dass das strategische Bieten auf Flexibilitätsmärkten besonders dann kritisch ist, wenn es nur wenige teilnehmende Akteure gibt, hohe Preis Spreads am Spotmarkt herrschen und pivotale Anbieter präsent sind – also, wenn einzelne Anbieter durch ihr Verhalten einen Engpass provozieren können. Um die Gefahr zu beherrschen, werden zurzeit mehrere Mitigationsstrategien diskutiert, deren Wirkungsweise wir mit dem Modell überprüft haben:

  • Vorgelagerte Angebotsfixierung: Mit dem Mechanismus sollen Anbieter gezwungen werden ihr Gebot am Redispatch-Markt weit im Voraus abzugeben, bevor sie einen möglichen Engpass prognostizieren könnten. Dies kann zwar helfen die Ausübung von Marktmacht am Redispatch-Markt einzudämmen, jedoch findet das tatsächliche Inc-Dec Gaming durch das Gebot am Spotmarkt statt. Selbst wenn das Redispatch-Gebot schon lange feststeht, können sich Anbieter am Spotmarkt noch strategisch positionieren und so die Engpasssituation verschärfen.
  • Stochastische Nichtbezuschlagung: Dabei wird versucht das Risiko für Anbieter am Redispatch-Markt künstlich zu erhöhen, indem die Abrufe dort mit einem gewissen Unsicherheitsfaktor belegt werden, sodass die Anbieter Gefahr laufen, nicht bezuschlagt zu werden, obwohl sie das das günstigste Gebot vorweisen. Damit werden aber automatisch höhere Kosten für die Beschaffung in Kauf genommen und zudem müssten die Nichtbezuschlagungsraten in unseren Szenarien mindestens 48 % betragen, um einen abschreckenden Effekt zu haben.
  • Leistungsbasierter Redispatch: Die bis dato einzige Maßnahme, die auch in unserem Modell Wirkung zeigt, ist eine Vergütung für Redispatch nach Leistungs- statt nach Arbeitspreis. Bei jeder reinen Leistungspreis-Auktion, die vor den Spotmärkten stattfindet, ist kein klassisches Inc-Dec Gaming zu erwarten, da nur die Vorhaltung vergütet wird und es damit für den Gewinn der Anbieter keine Rolle spielt, ob der Engpass tatsächlich eintritt oder nicht. Die Anbieter könnten höchstens in Erwartung eines Engpasses ihr Leistungspreis-Gebot in die Höhe treiben und damit bspw. eine marktbeherrschende Stellung ausnutzen. Dies wiederum könnte aber über eine vorgelagerte Angebotsfixierung eingedämmt werden. Beim eigentlichen Abruf ist entscheidend, dass keine Arbitragemöglichkeiten zum Spotmarkt bestehen. Zuschaltlasten sollten daher auch im Redispatch-Fall den momentan gültigen Intraday-Preis bezahlen, während Abschaltlasten eine Entschädigung in der gleichen Höhe erhalten.

Die Ergebnisse der Untersuchungen fließen in mehrere weiterführenden Fragestellungen innerhalb unIT‑e² sowie in weiteren Forschungsprojekten der FfE zu dem Thema mit ein. Darunter zählen neben der Ausgestaltung des Redispatch 3.0 auch das Design einer Koordinationsplattform für Flexibilitäten in der Niederspannung.