30.07.2024

Wie tragen bidirektionale Ladestrategien zu einem klimaneutralen Energiesystem bei?

In der aktuellen Publikation im Journal Applied Energy werden die Rückwirkungen von Vehicle-to-Grid (V2G)-Strategien im Energiesystem der Zukunft untersucht. Im Zuge des Projektes unIT-e² wurden mittels einer prospektiven Lebenszyklusanalyse (LCA) die Auswirkungen verschiedener Ladestrategien auf das Treibhauspotenzial (Global Warming Potential, GWP) der Stromerzeugung in Deutschland untersucht. Die Ergebnisse zeigen den Beitrag von V2G zur Minderung der Treibhausgas-Emissionen (THG-Emissionen) im Energiesystem und zur potenziellen Senkung betrieblicher THG-Emissionen von Elektrofahrzeugen. Somit liefert die Studie Erkenntnisse zur Rolle von V2G für die Erreichung der Klimaziele.

Ziele der Studie

Durch V2G können batterieelektrische Fahrzeuge (BEVs) als flexible Speicheroptionen genutzt werden, da es sowohl das gesteuerte Laden als auch das Entladen von Fahrzeugbatterien ermöglicht. Anwendungen von V2G zielen auf technische und wirtschaftliche Vorteile aus der Sicht des Systems und der Endnutzer ab. Lebenszyklusanalysen (LCA) von BEVs deuten darauf hin, dass Ladestrategien die betriebsbedingten THG-Emissionen potenziell reduzieren können. Neben der Bewertung der Umweltauswirkungen auf der „Technologieebene“ müssen die Auswirkungen auf der „Systemebene“ berücksichtigt werden, die durch die Verbreitung der untersuchten Technologie verursacht werden. Solche systemischen Effekte umfassen Auswirkungen von Ladestrategien auf die stündliche Stromerzeugung. Um die Auswirkungen von Ladestrategien umfänglich zu bewerten, wird ein methodischer Rahmen benötigt, der zukünftige Entwicklungen sowohl auf der Technologie- als auch auf der Systemebene konsistent berücksichtigt. Bei der Analyse zukünftiger Szenarien ermöglicht eine prospektive LCA (pLCA) die Berücksichtigung technologischer Entwicklungen.

Methodik

Der methodische Beitrag dieses Artikels liegt in der Konsolidierung der Technologie- und Systemperspektiven für die Bewertung neuer Anwendungsfälle im Energiesystem. Die Studie kombiniert dazu die Energiesystemmodellierung mit einer vergleichenden pLCA. Dadurch wird die Bewertung von mittel- und langfristigen Effekten von Ladestrategien im Energiesystem ermöglicht. Bei der anschließenden Anwendung der Methodik werden zwei kostenminimierte Klimapolitikszenarien für Deutschland bewertet. Im „V2G Szenario“ besteht die Möglichkeit, BEVs als flexible Speicheroption zu nutzen, während das „Referenzszenario“ diese Option exkludiert. Die beiden Szenarien sind mit dem linearen Optimierungsmodell ISAaR für den Zeitraum 2025 – 2045 simuliert. Im zweiten Teil der Studie wird untersucht, wie sich die systemischen Rückwirkungen im V2G Szenario auf die LCA der Technologie, d. h. auf den Fußabdruck von BEVs auswirken. Die Bestimmung der Emissionsfaktoren in stündlicher Auflösung ermöglicht es, den Einfluss verschiedener Ladestrategien zu berücksichtigen. Durch einen Vergleich zu konventionellen PKWs (ICEVs) kann letztendlich die ökologische Amortisationszeit („Break-even“) bestimmt werden.

Ergebnisse

Die Studie zeigt die Auswirkungen von V2G auf das Treibhauspotenzial der deutschen Stromerzeugung in stündlicher Auflösung. Wie in Abbildung 1 (links) dargelegt, kann die großflächige Verfügbarkeit von V2G die Integration von Erneuerbaren Energien (EE) mittelfristig beschleunigen (Jahre 2030 – 2035). Obwohl beide Szenarien die Klimaziele bis 2045 erreichen, ergeben sich unterschiedliche Auswirkungen auf den Speicherbedarf im Energiesystem. Abbildung 1 (rechts) zeigt die jeweilige installierte Speicherkapazität je Szenario. Im Vergleich zum Referenzszenario (ohne V2G) kann durch die Nutzung von BEVs als flexible Speicheroption eine Substitution von 117 GWh an stationären Batteriespeichern in Deutschland erzielt werden. Dies deutet auf eine langfristige Reduzierung des Ressourcenbedarfs im V2G-Szenario hin.

Abbildung 1: Auswirkungen auf die Stromerzeugung (links) als Differenz vom V2G-Szenario im Vergleich zum Referenzszenario sowie installierte batterieelektrische Speicherkapazitäten je Szenario [Darstellung aus Paper, https://doi.org/10.1016/j.apenergy.2024.123618]

Bei der Bewertung der Auswirkungen auf Technologieebene führt V2G zu erheblichen Reduzierungen der betriebsbedingten THG-Emissionen von BEVs. Wie Abbildung 2 (links) zeigt, treten die größten Potenziale zur THG-Reduktion im Jahr 2030 auf: Im Vergleich zum unkontrollierten Laden (144 kgCO2e/BEV) sinken die jährlichen Betriebsemissionen durch V2G um bis zu 200 % und erreichen negative Werte (-141 kgCO2e/BEV). Diese Potenziale hängen von der Zuordnung der Emissionseinsparungen ab, die durch den sekundären Zweck der BEVs erreicht werden, d. h. der Speicheroption für das Energiesystem. Wird dieser Sekundarzweck berücksichtigt („system expansion“), werden mehr Emissionen verdrängt (negative Werte) als durch das Laden anfallen. Wird der Sekundärzweck nicht berücksichtigt („physical allocation“), sind die Einsparungen von V2G vergleichbar mit dem unidirektional gesteuerten Laden (V1G). Der ökologische Break-Even, d. h. die Zeit bzw. Fahrleistung bis zur Kompensation des höheren Fußabdrucks in der Produktion des BEVs, hängt daher maßgeblich von der Ladestrategie ab. Wie in Abbildung 2 (rechts) dargestellt, wird dieser Zeitpunkt bei einem durchschnittlichen Deutschen Fahrprofil bei ungesteuertem Laden nach 3 Jahren, bei V1G nach 2,7 und bei V2G nach 2,5 Jahren erreicht (Inbetriebnahme im Jahr 2025).

Die Ergebnisse hängen dabei stark von den Annahmen in der Energiesystemmodellierung (z. B. EE-Ausbau, Verfügbarkeit von BEVs) und dem Fahrverhalten ab (in dem Fall durchschnittliches Deutsches Fahrprofil). Analog zu den systemischen Rückwirkungen zeigt die Studie, dass mit steigendem EE-Anteil der Stromerzeugung das Potenzial zur Reduzierung der betrieblichen Emissionen durch V2G langfristig abnimmt. Die Produktionsphase gewinnt daher an Bedeutung. Hersteller sollten entsprechend auf eine Reduktion der Umweltwirkungen in der Produktion von BEVs und entlang der Lieferkette achten.

Abbildung 2: Ergebnisse der betriebsbedingten Emissionen (links) sowie Auswirkungen auf den ökologischen Break-Even (rechts) von BEVs je Ladestrategie im Vergleich zu ICEVs [Darstellungen aus Paper, https://doi.org/10.1016/j.apenergy.2024.123618]

Fazit

Insgesamt verbessert die Kombination der System- und Technologieebenen in einer prospektiven Bewertung das Verständnis der Umweltauswirkungen, die durch eine Durchdringung neuer Anwendungsfälle im Energiesystem entstehen. Die Studie zeigt dies am Beispiel einer großflächigen Anwendung von V2G-Strategien im Deutschen Energiesystem. Ergebnisse zeigen mittelfristig einen Beitrag zur beschleunigten EE-Integration durch die flexible Anwendung von BEVs als flexible Speicherkapazität. Obwohl das Referenzszenario ohne V2G-Verfügbarkeit die Reduktion der THG-Emissionen der Stromerzeugung langfristig mit stationären Speichern ebenfalls erreicht, kann V2G eine potenzielle Ressourceneinsparung durch die Nutzung vorhandener Fahrzeugbatterien erzielen. Werden die Auswirkungen auf die Stromerzeugung bei der LCA-Bewertung von BEVs berücksichtigt, ist ein Reduktionspotenzial von bis zu 200 % der betriebsbedingten Emissionen ersichtlich. Die Ergebnisse hängen insgesamt von den Annahmen der Szenarien und vom Ladeverhalten ab. Forscher können die im Paper dargelegte Methode sowie die stündlichen Emissionszeitreihen für nachfolgende Studien anwenden, um Anwendungsfälle im Energiesystem zu bewerten.

Alle Ergebnisse und Rückschlüsse werden im Detail im Open Access Paper „Environmental effects of vehicle-to-grid charging in future energy systems – A prospective life cycle assessment“ des Applied Energy Journal vorgestellt und diskutiert.

Die entwickelte Methode findet außerdem Anwendung zur Evaluierung von der Kombination von Ladestrategien (Multi-Use). Die Ergebnisse sind im Open Access Paper „Prospects of electric vehicle V2G multi-use: Profitability and GHG emissions for use case combinations of smart and bidirectional charging today and 2030“, ebenfalls im Applied Energy Journal publiziert.