26.10.2020

Beitragsreihe GridSim: Lastflussberechnungen

Das Verteilnetz- und Energiesystem-Modell GridSim ist ein umfassendes und vielschichtiges Modell der FfE. Dieses vorwiegend in MATLAB implementierte Simulationsmodell wird seit dem Jahr 2012 in diversen Projekten weiterentwickelt, um kontinuierlich den technologischen Fortschritt abzubilden und um dadurch einen Beitrag zur Beantwortung der aktuellsten, energiewirtschaftlichen Forschungsfragen im Kontext der Verteilnetze zu leisten. In der folgenden Beitragsreihe bieten wir einen vertiefenden Einblick in den Werkzeugkasten der FfE, von den Grundsätzen über die darin modellierten Komponenten und Möglichkeiten der Regelung bis hin zur automatisierten Auswertung und Veranschaulichung der Simulationsergebnisse.

Dieser Beitrag ist der dritte von fünf Beiträgen, die nun sukzessive auf unserer Website erscheinen und in dieser Tabelle verlinkt werden.

Berechnung der Lastflüsse

Nach Initialisierung der Netze und der darin interagierenden Komponenten im MATLAB-Framework des Modells erfolgt die dynamische Berechnung der Lastflüsse und der daraus resultierenden Netzkenngrößen. Diese stellt im gesamten Modell den zentralen Baustein zur Bewertung der Netzbelastungszustände dar (vgl. Abbildung 1). Über eine Zeitschleife in selektierter zeitlicher Auflösung wird in jedem Zeitschritt für jeden Netzverknüpfungspunkt zunächst die Residuallast (Summe aus elektrischer Erzeugung und Last am jeweiligen Knoten) aus den jeweils angeschlossenen Komponenten berechnet. Äquivalent zur dreiphasigen Modellierung der Netztopologie erfolgt auch die Verteilung der Last einzelner Komponenten auf die einzelnen Phasen, wobei Anschlussbedingungen und in Realität gängige Richtlinien zur Verteilung der Anschlüsse der Komponenten berücksichtigt werden.

Abbildung 1: Schematische Darstellung des Simulationsablauf

Für die Netzberechnungen wird die Open-Source-Software OpenDSS (Open Distribution System Simulator) verwendet, welche zur Berechnung von elektrischen Netzen mit speziellem Fokus auf Verteilnetze entwickelt wurde [1]. Die Ansteuerung von OpenDSS verläuft dabei aus dem MATLAB-Framework über eine COM-Schnittstelle. Die jeweils übergebene Netztopologie wird in eine entsprechende Knotenadmittanzmatrix umgerechnet. Nach anschließender Übergabe der zeitschrittbedingten Wirk- und Blindleistungs-Netzknoten werden über einen Referenzpunkt (meist die Niederspannungsseite des Ortsnetztransformators) die komplexen Spannungen iterativ mittels Newton-Algorithmus berechnet. Anschließend werden die Leistungsflüsse über die Betriebsmittel bestimmt und Auslastungskenngrößen ermittelt. [2]

Ein großer Vorteil der Energiesystemmodellierung mit GridSim ist die Möglichkeit des Anschlusses der Komponenten mit unterschiedlicher Phasenanzahl. Viele Komponenten der Niederspannung, wie z. B. PV-Wechselrichter und Ladepunkte mit niedriger Leistung (bis zu zulässiger Schieflast von 4,6 kVA), sind einphasig im Verteilnetz angeschlossen und können in GridSim realitätstreu abgebildet werden. Die Leitungen der Verteilnetze werden dabei nach der Methode der „Symmetrischen Komponenten“ modelliert, wodurch die unsymmetrische Lastflussberechnung im Modell GridSim ermöglicht wird [3]. (Detaillierte Beschreibung zur Modellierung von Stromleitungen nach der Methode der „Symmetrischen Komponenten“ in [4])

OpenDSS wird im umfassenden Framework im „Snapshot-Modus“ betrieben, in welchem für jeden Zeitschritt erneut die Übergabe der zeitschrittbedingten Leistungskennwerte und Rückgabe der Netzkenngrößen erfolgt. Diese zurückgegebenen Kenngrößen dienen dabei als mögliche Führungsgrößen dynamischer Regelungen für kommende Zeitschritte. Die wichtigsten Kenngrößen, welche aus der Lastflussberechnung an das umfassende Framework zurückgegeben werden, sind:

  • Komplexe, dreiphasige Ströme durch die Leitungen
  • Komplexe, dreiphasige Spannungen an den Knotenpunkten
  • Transformator- und Netzverluste

 

Auswertung der Netzzustandsgrößen

Die berechneten Kenngrößen werden zur Analyse der Netzbelastung weiterführend miteinander verrechnet und ausgewertet, wie z. B.:

  • Berechnung der Wirk- und Blindleistungsflüsse
  • Auswertung von Betriebsmittelauslastungen (Transformatoren, Leitungen)
  • Auswertung möglicher Grenzwertüberschreitungen (z. B. Strombelastbarkeit der Leitungen, Grenzwerte des Spannungsbands)
  • Analyse möglicher, unsymmetrischer Belastungssituationen
  • Bestimmung und Nachjustieren der Reglerzustände
  • Berechnung von Speicherzuständen (SOCs)

Die mit GridSim durchgeführten Simulationen betrachten das jeweilige Energiesystem in einer Zeitauflösung im Minuten- bis Stundenbereich. Die Abbildung transienter Vorgänge ist durch das Simulationsmodell nicht möglich. In geringem Umfang (z. B. bei Stufenstellern) wird das Einschwingverhalten netzzustandsbasierter Regelungen durch Mehrfach-Solving des aktuellen Betriebszustandes gelöst [5]. Auch sehr träge „Einschwingvorgänge“ im Tagebereich werden berücksichtigt. So beginnt eine reguläre GridSim-Simulation mit einer Initialisierungsperiode (Simulation weniger Tage), in welcher sich träge Vorgänge einpendeln können und zum tatsächlichen Simulationsbeginn realitätsnahe Bedingungen geschaffen werden, wie z. B. für die Start-SOCs von Elektrofahrzeugen, Wärme- und Stromspeichersystemen.

Bei möglicher Nichteinhaltung der sicheren Netzbetriebszustände, kann mit GridSim weiterführend auch der Einsatz Netzoptimierender Maßnahmen (NOMs) und daraus resultierender Auswirkungen analysiert werden. Grundsätzlich wird dabei zwischen NOMs mit und ohne aktive Einflussmöglichkeit auf die (Wirk-)Residuallast unterschieden. NOMs ohne aktive Einflussmöglichkeit umfassen den konventionellen Netzausbau, topologische Schalthandlungen sowie Netzbetriebsmittel wie regelbare Ortsnetztransformatoren, Längsregler oder Blindleistungsmanagement. In GridSim modellierte NOMs mit aktiver Einflussmöglichkeit auf die (Wirk-)Residuallast sind Spitzenlastkappung, aktives Lastmanagement, der Einsatz von Quartier- und Hausspeichersystemen sowie der flexible Einsatz von Elektrofahrzeugen oder Power-to-Heat-Systemen. [6]

Die Flexibilität der Verbraucher kann im zukünftigen Energiesystem eine maßgebliche Rolle spielen, so zeigen erste GridSim-Untersuchungen bezüglich dieser Thematik, dass strombedingte Netzengpässe durch netzdienlichen Einsatz kleinteiliger Flexibilitäts-Optionen gelöst werden können [7]. Die Betriebsweise der verschiedenen Komponenten ist dabei ein ausschlaggebendes Kriterium auf deren Einfluss im aktuellen und zukünftigen Netzbetrieb. Welche konkreten Betriebsweisen der Komponenten im Rahmen von GridSim-Simulationen möglich sind, wird im kommenden Beitrag dieser Reihe detaillierter beleuchtet.

Weitere Informationen:

 

Literaturverzeichnis:

[1] Simulation Tool – OpenDSS. Palo Alto, California: Electric Power Research Institute, 2015.
[2] Dugan, Roger C. et al.: Reference Guide – The Open Distribution System SimulatorTM (OpenDSS). 2020.
[3] Nobis, Philipp: Entwicklung und Anwendung eines Modells zur Analyse der Netzstabilität in Wohngebieten mit Elektrofahrzeugen, Hausspeichersystemen und PV-Anlagen. Dissertation. München: Technische Universität München – Fakultät für Elektrotechnik und Informationstechnik, 2016
[4] Oeding, Dietrich; Oswald, Bernd: Elektrische Kraftwerke und Netze. Berlin: Springer-Verlag, 2011
[5] Müller, Felix: Entwicklung einer Methodik zur mehrfachen Lastflussrechnung bei netzzustandsbasierten Regelungen im Verteilnetz . Bachelorarbeit. Herausgegeben durch Hochschule München, betreut durch die Forschungsstelle für Energiewirtschaft e.V. : München, 2018.
[6] Samweber, Florian: Systematischer Vergleich Netzoptimierender Maßnahmen zur Integration elektrischer Wärmeerzeuger und Fahrzeuge in Niederspannungsnetze. München: Fakultät für Elektrotechnik und Informationstechnik der TU München, 2017
[7] Müller, Mathias et al.: Simulative Abbildung von Netzbelastungssituationen in einem realen Mittelspannungsnetz und resultierender Flex-Bedarf. In: Tagung Zukünftige Stromnetze Berlin: Conexio GmbH, 2020.