12.02.2019

Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen

Etwa die Hälfte aller energiebedingten Treibhausgasemissionen in Deutschland sind der Energiewirtschaft zuzuschreiben [1]. Die Reduktion dieses Bestandteils ist schon seit Jahren ein zentraler Baustein der energiepolitischen Agenda zur Erreichung der Pariser Klimaschutzziele. Der Ausbau der Erneuerbaren Energien stellt dabei nur eine Maßnahme zur Reduktion der Emissionsintensität von Strom dar. Darüber hinaus gilt es den bestehenden, fossilen Kraftwerkspark in Einklang mit den Emissionsreduktionszielen zu bewirtschaften. Vor dem Hintergrund, dass es sich bei dem Ausbau von Windturbinen und Photovoltaikanlagen um einen Prozess handelt, der mit verschiedenen Systemanpassungen wie beispielsweise einem adäquaten Netzausbau einhergeht, wird dieser Umbau nicht von heute auf morgen geschehen. Der fossile Kraftwerkspark wird noch über viele Jahre einen sinkenden, aber bedeutsamen Anteil an der Stromerzeugung haben. Aufgrund der deutlichen Unterschiede in den Emissionsfaktoren der verfeuerten Brennstoffe und der unterschiedlichen Nutzungsgrade der Kraftwerke ist es aus Emissionssicht nicht unerheblich, welche Brennstoffe und Kraftwerkstypen zum Einsatz kommen.

Zentral ist an dieser Stelle das Prinzip der „Merit-Order“, der sogenannten Reihung nach Wert. Bei der Merit-Order der Stromerzeugung handelt es sich um eine Aneinanderreihung der Kraftwerkskapazitäten nach Grenzkosten. In einem perfekten, liberalisierten Markt könnte der Einsatz der Kraftwerke durch einen senkrechten Schnitt auf Höhe der Residuallast (Stromnachfrage minus Erzeugung aus fluktuierenden Erneuerbaren) des jeweiligen Zeitpunktes bestimmt werden. Der reale Strommarkt sieht jedoch anders aus: Technische Restriktionen, Eigenverbrauchsoptimierungen, Verfeuerung von Abfall oder Reststoffen, Deckung von Fernwärmebedarfen sowie regulatorische Anreize (z. B. vermiedene Netznutzungsentgelte oder die Förderung nach KWK-Gesetz) führen zu einem Kraftwerkseinsatz, der nicht allein durch den Grenzkostenansatz des Merit-Order-Prinzips zu erklären ist. Nichtsdestotrotz besitzt die Merit-Order als Erklärung für die grundsätzliche Funktionsweise des Strommarkts ihre Gültigkeit. So auch zur nachfolgenden Analyse von regulatorischen Eingriffen mit dem Ziel einer Treibhausgasminderung der Stromerzeugung.

Zur Einhaltung der Klimaziele sind häufig Instrumente zur Erhöhung der Kosten für die Emission einer Tonne CO2 im Gespräch. Für eine Umsetzung sind verschiedene Wege denkbar und finden teilweise in anderen europäischen Ländern bereits Anwendung:

  • Anpassung der Zertifikatpreise des EU ETS (European Union Emissions Trading System) durch eine Verknappung der im Umlauf befindlichen Zertifikatsanzahl
  • Ein europäischer CO2-Mindestpreis
  • Eine nationale CO2-Steuer/-Abgabe

All diese Ansätze zielen im Kern darauf ab, die Zertifikatspreise zu erhöhen, um eine stärkere CO2-Reduktion herbeizuführen. Während sich die Preise im Zeitraum von 2015 bis 2017 in der Größenordnung 5-10 €/t bewegten, ließ sich in 2018 eine Steigerung auf im Mittel 16 €/t beobachten. Die Ursache dieses Preisanstiegs liegt hauptsächlich in der im November 2017 vom Europäischen Rat und Parlament verabschiedeten Reform des EU ETS für die vierte Handelsperiode. Die Reform sieht u.a. eine Stärkung der Marktstabilitätsreserve sowie einer Erhöhung des linearen Reduktionsfaktors von 1,74 auf 2,2 % vor und zielt damit auf eine deutlich schnellere Verknappung der ausgegebenen Emissionszertifikate ab.

Als alternative Maßnahme zur Emissionsreduktion ist seit langem ein Kohleausstieg im Gespräch gewesen, der eine schrittweise, gesetzlich vorgegebene Außerbetriebnahme von Kohlekraftwerken beinhaltet. Auch hier hat sich im Laufe des Jahres 2018 einiges getan, so dass Ende Januar 2019 die von der Bundesregierung beauftragte Kohlekommission einen Kohleausstieg bis in das Jahr 2038 als Empfehlung ausgesprochen hat [2].

Mit einem Blick auf die Emissionen nach Merit-Order wird deutlich, wieso diese Maßnahme aus Sicht des Klimaschutzes durchaus seine Berechtigung hat. In Abbildung 1 wird durch die Gegenüberstellung der Merit-Order nach Grenzkosten und den dazugehörigen Emissionsfaktoren der Kraftwerke das Emissions-Dilemma der Merit-Order verdeutlicht. Die Berechnung der Grenzkosten und der CO2-Emissionsfaktoren der Stromerzeugung basiert auf den brennstoffbezogenen Emissionsfaktoren aus [3] sowie den Brutto-Wirkungsgraden, Brennstoff- und CO2-Kosten aus dem Projekt „Dynamis“ [4].

Abbildung 1: Gegenüberstellung der Merit-Order nach Grenzkosten mit den energie- und betriebsbedingten CO2-Emissionsfaktoren der Kraftwerke im Jahr 2015; Anmerkung: Analog zu den Grenzkosten werden auch die Emissionen, die im KWK-Betrieb anfallen, gänzlich der Stromerzeugung zugeschrieben (1). Datenquelle: FfE-Kraftwerksdatenbank

Werden die rein betriebsbedingten Emissionen betrachtet, so zeigt sich, dass – mit Ausnahme der Kernenergie – emissionsintensive Brennstoffe aufgrund ihrer niedrigen Grenzkosten bevorzugt zur Stromerzeugung eingesetzt werden. Selbst hocheffiziente Gas- und Dampfturbinenkraftwerke (GuD) kommen nach Merit-Order-Prinzip erst nach emissionsintensiveren Steinkohlekraftwerken zum Einsatz. Besteht kein weiterer Betriebsanreiz, wie beispielsweise die Versorgung eines Fernwärmenetzes, können die in den letzten Jahren zurückgehenden Residuallasten auf unter max. 67 GW (2017) dazu führen, dass diese Kraftwerke aufgrund sinkender Betriebsstunden und Deckungsbeiträge häufig nicht mehr wirtschaftlich betrieben werden können. Ein prominentes Beispiel stellt das GuD Irsching dar. In Anbetracht der verhältnismäßig geringen spezifischen Emissionen dieses Kraftwerkstyps ist die Motivation für einen regulatorischen Eingriff aus klimapolitischer Sicht gegeben.

Wie eingangs erläutert bestehen verschiedene Ansätze, um einen emissionsreduzierten Einsatz des fossilen Kraftwerksparks anzureizen. Mögliche Konsequenzen der beiden Strategien „CO2-Preis“ und „Kohleausstieg“ werden im zugehörigen Arbeitspapier anhand ihrer Auswirkungen auf die Merit-Order diskutiert.

Die Identifikation von kosteneffizienten CO2-Verminderungsoptionen auch in anderen Sektoren ist eine große Herausforderung, bei der die Energiesystemforschung einen wichtigen Beitrag liefern kann. Diese Themen sind Gegenstand des Projektes „Dynamis – Dynamische und intersektorale Maßnahmenbewertung zur kosteneffizienten Dekarbonisierung des Energiesystems“ (Förderkennzeichen: 03ET4037A), im Rahmen dessen der vorliegende Beitrag entstanden ist.

 

Wissenschaftliche Begleitung:

Prof. Dr.-Ing. Ulrich Wagner, Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Mauch, Dr.-Ing. Serafin von Roon

[1] Nationale Trendtabellen für die deutsche Berichterstattung atmosphärischer Emissionen – 1990 – 2015. Dessau-Roßlau: Umweltbundesamt, 2017
[2] Berichterstattung unter der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen und dem Kyoto-Protokoll 2016 – Nationaler Inventarbericht zum Deutschen Treibhausgasinventar 1990 – 2014. Dessau-Roßlau: Umweltbundesamt (UBA), 2016
[3] Regett, Anika; Zeiselmair, Andreas; Wachinger, Kristin; Heller, Christoph: Merit Order Netz-Ausbau 2030 – Teilbericht 1: Szenario-Analyse. München: Forschungsstelle für Energiewirtschaft e.V., 2017
[4] Laufendes Projekt: Dynamis – Dynamische und intersektorale Maßnahmenbewertung zur kosteneffizienten Dekarbonisierung des Energiesystems. München: Forschungsstelle für Energiewirtschaft e.V., Forschungsgesellschaft für Energiewirtschaft mbH und Technische Universität München, 2019

(1) Es ist zu beachten, dass nur die energiebedingten CO2-Emissionen im Betrieb berücksichtigt werden, nicht jedoch Emissionen, die für die Brennstoffbereitstellung und die Infrastruktur anfallen. Da in der klassischen Merit-Order-Darstellung die Grenzkosten von Kraft-Wärme-Kopplungs (KWK)-Anlagen nicht auf die Energieträger Strom und Wärme aufgeteilt werden, erfolgt aus Konsistenzgründen auch für die Darstellung der Emissionen keine Allokation auf die Koppelprodukte. Hierdurch erklären sich die hohen Emissionen am Ende der jeweiligen Brennstoffgruppen.