Versorgungssicherheit in Niederbayern bis 2030 – ein Gutachten für die IHK Niederbayern
Ausgangslage
Vor dem Hintergrund der Energiewende steht der deutsche Stromsektor vor einer Reihe grundlegender Veränderungen. Der Ausstieg aus Kohle- und Kernenergie stellt eine richtungsweisende Entwicklung dar, dem der Ausbau erneuerbarer Energien und der Stromnetze gegenübersteht.
Im Regierungsbezirk Niederbayern entfällt durch das Abschalten des Kernkraftwerks Isar 2 bis spätestens Ende 2022 eine elektrische Nennleistung von 1.410 Megawatt. Durch diese und weitere strukturelle Veränderungen des Stromsystems ist das Thema Versorgungssicherheit in Niederbayern von großer Relevanz. Im Rahmen eines Gutachtens wird im Auftrag der Industrie- und Handelskammer (IHK) Niederbayern untersucht, inwiefern bei aktuellem Kenntnisstand von einer gesicherten Stromversorgung bis ins Jahr 2030 ausgegangen werden kann.
Analyse der Situation im Bezirk bei einer „Umsetzung nach Plan“
Die Situation im Bezirk wird für die Stützjahre 2025 und 2030 analysiert und mit dem Status Quo verglichen. Dazu wird das Szenario einer „Umsetzung nach Plan“ erstellt, in dem alle relevanten energiewirtschaftlichen Entwicklungen entsprechend der aktuellen Planung bzw. Zielsetzung erfolgen. Zu den relevantesten Entwicklungen zählen beispielsweise der Übertragungsnetzausbau, die europäische Strommarktkopplung und die Elektrifizierung von Verkehr und Wärmebereitstellung.
Konkret wird die Frage beantwortet, ob der Stromverbrauch im Bezirk auch in Zukunft noch zu jeder Stunde gedeckt werden kann. Um die Versorgungssicherheit garantieren zu können, muss sowohl die gesicherte Leistung innerhalb des Bezirks als auch die gesicherte, transportierbare Leistung außerhalb des Bezirks für jeden Zeitpunkt des Jahres analysiert werden. Dabei ist das Vorgehen wie folgt:
- Erfassen der im Bezirk installierten Leistung zum Ist-Zustand und für die Stützjahre
- Bestimmen der gesicherten Leistung im Bezirk
- Identifizieren der maximal auftretenden Last im Bezirk
- Berechnen der Differenz zwischen gesicherten Leistung und maximal auftretenden Last im Bezirk, um die Höhe der Strom-Importe in den Bezirk zu bestimmen.
Die gesicherte Leistung richtet sich nach der Verfügbarkeit der Erzeugungsanlage. Während beispielsweise bei Kernenergie 93 % der installierten Leistung als gesichert betrachtet werden können, liegt der Anteil bei Windkraftanlagen lediglich bei 1 %, bei Photovoltaikanlagen sogar bei 0 %.
Die nachfolgende Abbildung resultiert aus den beschriebenen Schritten. Es zeigt sich, dass sich die installierte Leistung trotz Ausbau der Erneuerbaren durch das Abschalten von Isar 2 verringert. Die gesicherte Leistung in Niederbayern nimmt infolgedessen von 2018 bis 2025 um rund 1.300 MW ab und verbleibt anschließend auf einem etwa konstanten Niveau. Während im Ist-Zustand mehr gesicherte Leistung in Niederbayern verfügbar ist als maximal verbraucht wird, überschreitet die Spitzenlast im Szenario einer „Umsetzung nach Plan“ die gesicherte Leistung im Bezirk für die Jahre 2025 und 2030. Im Extremfall müssen 800 MW elektrische Leistung in den Bezirk transportiert werden. Auch wenn der Ausbau der erneuerbaren Energien bezüglich der Analyse zur Versorgungssicherheit eine untergeordnete Rolle spielt, so nimmt die jährliche Stromerzeugung durch Erneuerbare in den Berechnungen dennoch stetig für die simulierten Jahre zu, sodass Niederbayern bis ins Jahr 2030 Stromexporteur bleibt.
Die weiterführende Analyse des Stromsystems ergibt, dass die Versorgungssicherheit in Niederbayern für den betrachteten Zeitraum selbst zu kritischen Zeiten durch gesicherte Stromimporte in den Bezirk gewährleistet werden kann. Entscheidend dafür sind der fristgerechte Ausbau des Stromnetzes und die Kopplung mit den europäischen Nachbarstaaten. In einem weiteren Gutachten, das die FfE 2016 im Rahmen des Abschaltens des Kernkraftwerks Gundremmingen Ende 2021 für die IHK Schwaben erstellt hat, konnte durch eine explizite Netzbetrachtung festgestellt werden, dass die Übertragungsnetze bei planmäßigem Ausbau in der Lage sind die benötigten Energiemengen zu transportieren [1]. Ergänzend dazu wurde im Rahmen der Aktualisierung des Leitfadens Energiewende im Strommarkt eine Studie zur Versorgungsqualität in Bayern für die BIHK durchgeführt, in der vor allem Befragungen von Unternehmen des produzierenden Gewerbes, der Industrie und weiterer Akteure der Energiewirtschaft in Bayern ausgewertet wurden [2].
Der Vergleich der simulierten Erzeugungs- und Verbrauchslastgänge im kritischsten Zeitintervall 2025 mit den Januarwochen 2017 (siehe Abbildung 2) zeigt, dass es schon heutzutage zu ähnlichen Situationen im niederbayerischen Stromsystem kommt. Die vorhandenen Netze waren im Januar 2017 bereits in der Lage, die durch die Revision des Kernkraftwerks Isar 2 notwendig gewordenen Strom-Importe in den Bezirk zu garantieren.
Analyse möglicher kritischer Entwicklungen
Die Entwicklung der Situation im Bezirk unterliegt einer Reihe von Unsicherheiten, da politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entscheidungen diese maßgeblich beeinflussen. Um weitere mögliche Entwicklungen zu untersuchen, wird eine Methodik entwickelt, die das Erstellen konsistenter Entwicklungspfade für den Zeitraum bis 2030 erlaubt.
Abbildung 3 veranschaulicht den Prozess zum Erstellen solcher Entwicklungspfade. Dabei werden die einzelnen Pfade aus einer Kombination von einzelnen Entwicklungskomponenten erstellt, wobei jede Entwicklungskomponente eindeutig definiert wird (1. Schritt). Je Pfad ergibt sich eine unterschiedliche Zusammensetzung der Entwicklungskomponenten für die Stützjahre 2025 und 2030, wobei die pfadspezifische Ausprägung der Komponenten jeweils beschrieben wird (2. Schritt).
Um die Pfade vergleichbar zu halten, werden Deskriptoren in den Prozess eingebunden. Bei den Deskriptoren der Versorgungssicherheit handelt es sich um Elemente des Stromsystems, die der einheitlichen qualitativen Beurteilung unterschiedlicher Entwicklungen im Kontext der Versorgungssicherheit dienen. Dabei muss nicht jede spezifische Entwicklung durch jeden Deskriptor beurteilbar sein. Der Anspruch ist vielmehr, hinreichend viele Deskriptoren zu definieren (3. Schritt), um alle relevanten Entwicklungen durch einen der Deskriptoren in den jeweiligen Kontext einordnen zu können. In der abschließenden tabellarischen Darstellung der Entwicklungspfade (4. Schritt) werden die Ausprägungen der Entwicklungskomponenten in Bezug zu den Deskriptoren gesetzt. Diese Kombination ermöglicht ein Fazit zu Einfluss und Relevanz je Komponente im Kontext der Versorgungssicherheit.
Zur kritischen Analyse der Versorgungssicherheit werden ergänzend zum Pfad der „Umsetzung nach Plan“ zwei pessimistischere Entwicklungspfade erstellt. Zum einen wird der von Kritikern befürchtete verzögerte Netzausbau mit dem weiterhin feststehenden Kohleausstieg und einer stockenden Digitalisierung des Energiesystems kombiniert. Dieser Fall resultiert in einer leicht ansteigenden maximal in den Bezirk zu importierenden Leistung. Da trotz verzögertem Netzausbau ausreichend Strom aus Bayern und den süddeutschen Nachbarländern bezogen werden kann, ist die Stromversorgung in Niederbayern auch für diesen Pfad gesichert. Maßnahmen zur Absicherung der Stromversorgung wären bei einer solchen Entwicklung dennoch ratsam.
Zum anderen wird der Extremfall diskutiert, dass trotz erheblich verzögertem Netzausbau und mangelnder Ausweitung des europäischen Stromaustauschs ein verfrühter Kohleausstieg bis 2030 beschlossen wird. Für diesen Pfad ergibt sich ein nennenswerter Anstieg der zu importierenden Leistung. Im kritischen Zeitintervall ist fraglich, ob die Stromtransporte nach Niederbayern aufgrund der geringen gesicherten Stromerzeugung in Süddeutschland und des unvollendeten Netzausbaus ausreichend gesichert sind. Es müsste zusätzlich gesicherte Leistung aus den bayerischen Nachbarländern bezogen werden. Gegenmaßnahmen zur Vermeidung einer Kapazitätslücke in Süddeutschland sollten in diesem Fall frühzeitig ergriffen werden.
Rückschlüsse und Handlungsempfehlungen
Zwar ist die die Versorgungssicherheit in Niederbayern bei einer „Umsetzung nach Plan“ gewährleistet, die Analyse kritischer Entwicklungen zeigt jedoch, dass dieses Fazit einer gewissen Unsicherheit unterliegt. Die aus der Analyse resultierenden relevantesten Einflussfaktoren auf die Versorgungssicherheit lassen sich in konkrete Empfehlungen für Vertreter der Politik übertragen, die zugleich Implikationen für Industrie und Gewerbe mit sich bringen:
- Der Ausbau des Übertragungsnetzes ist essenziell und sollte entschlossen vorangetrieben werden, um alle Trassen schnellstmöglich fertigzustellen.
- Die europäische Strommarkt-Kopplung spielt beim Strombezug eine entscheidende Rolle, sodass die Strom-Handelskapazitäten konsequent erweitert werden sollten.
- Der Zubau konventioneller Kraftwerke sollte zumindest bis Fertigstellung der Netze vor allem in Süddeutschland stattfinden.
- Der Kohleausstieg sollte so geregelt werden, dass südliche Standorte zu späteren Zeitpunkten abgeschaltet werden, um Netzengpässen vorzubeugen.
- Der Anschluss und Betrieb dezentraler Erzeugungsanlagen sollte vereinfacht und gefördert werden.
- Die installierte Leistung der Kapazitätsreserve, Netzreserve sowie der besonderen netztechnischen Betriebsmittel sollte konsequent erweitert werden.
- Der netzdienliche Betrieb elektrischer Speicher sollte angereizt werden.
- Elektrische Verbraucher sollten schnellstmöglich steuerbar sein, um flexibel und systemdienlich eingesetzt werden zu können.
Weitere Informationen:
[1] Dufter, Christa; Eberl, Benedikt; von Roon, Serafin: Versorgungssicherheit in Schwaben. München: Forschungsgesellschaft für Energiewirtschaft mbH, 2016.
[2] Energiewende im Strommarkt – Chancen für Unternehmen. München: Bayerische Industrie- und Handelskammertag e. V. (BIHK), 2017.