CO₂-Verminderungskosten für die bayerische Industrie im Trendszenario
Im Auftrag der vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V. führte die FfE das Projekt „CO₂-Verminderungskosten für die bayerische Industrie im Trendszenario“ durch. Die Studie beurteilt die Entwicklung von CO₂-Verminderungskosten für die bayerische Industrie aus betriebswirtschaftlicher Akteurs- und volkswirtschaftlicher Systemsicht. Hierfür wird ein Trendszenario mit einem Zielszenario verglichen. Beide Szenarien erreichen die Klimaziele, basieren jedoch auf verschiedenen Ansätzen: Im Zielszenario werden, ausgehend von den Klimaschutzzielen, rückwirkend die notwendigen Maßnahmen abgeleitet. Das Trendszenario hingegen berücksichtigt die aktuell bestehenden Rahmenbedingungen und bewertet auf dieser Grundlage die Transformationsmaßnahmen neu.
Motivation und Zielsetzung
Bisherige Studien für eine treibhausgasneutrale Industrie und Energiewirtschaft leiten Transformationspfade aus den vorgegebenen Klimaschutzzielen ab.
Sowohl bayerische als auch nationale und europäische Klimaschutzgesetze streben Treibhausgasneutralität an. Damit verbunden ist eine Transformation beispielsweise der Sektoren Industrie und Energiewirtschaft. Studien wie der Bayernplan Energie 2040 oder die Energiesystemanalyse – Bayern klimaneutral zeigen in sogenannten Zielszenarien die Herausforderungen zur Erreichung dieser Klimaschutzziele auf. Dabei werden die Zielwerte exogen vorgegeben und daraus abgeleitet, welche Maßnahmen notwendig sind, um diese Zielsetzungen zu erreichen.
In der Realität werden diese berechneten Zielpfade häufig verfehlt. Eine reine Neuberechnung führt zu noch ambitionierteren Transformationspfaden, ohne jedoch die systemischen Ursachen der Abweichung und deren Auswirkungen zu adressieren. Durch die abweichende Transformation des Energiesystems ändern sich auch die Rahmenbedingungen, unter welchen die Akteure der bayerischen Industrie ihre anstehenden Investitionsentscheidungen treffen müssen, sowie die Kosten.
Das bayerische Trendszenario berücksichtigt aktuelle Dynamiken, Hemmnisse und Bedingungen und zeigt damit ein von den Transformationspfaden der Zielszenarien abweichendes Bild.
Die vorliegende Studie zielt darauf ab, die Lücke zwischen Zielszenarien und beobachtbaren Trends zu schließen. Hierzu wird ein Trendszenario entwickelt, das die Auswirkungen der aktuell zu beobachtenden und in der Kurz- und Mittelfrist zu erwartenden Trends bei der Entwicklung des Energiesystems berücksichtigt. Die langfristigen Klimaschutzziele werden dabei nicht in Frage gestellt. Im Zentrum steht die Frage, wie sich diese im Vergleich zu den Zielszenarien veränderten Rahmenbedingungen der Transformation auf die Verfügbarkeit und die Kosten von CO₂-Verminderungsmaßnahmen in der bayerischen Industrie auswirken. Hierzu werden die CO₂-Verminderungspotenziale der bayerischen Industrie technologiespezifisch neu bewertet.
Aus dem Abgleich zwischen Trend- und Zielpfaden sowie der Bewertung der Mehr und Minderkosten von Klimaschutztechnologien im Vergleich zu den heute im Einsatz befindlichen Technologien werden schließlich Leitplanken für die zukünftige Ausgestaltung von Finanzierungsanreizen hergeleitet. Diese sind notwendig, um die Umsetzung von CO₂-Verminderungsmaßnahmen unter aktuellen Rahmenbedingungen zu ermöglichen und damit die Industrietransformation in Bayern zu stärken.
Methodik
In der Analyse werden CO₂-Verminderungskostenkurven für jeweils eine konkrete Kombination aus drei Rahmenbedingungen berechnet:
- Einem konkreten Betrachtungsjahr: Status quo, 2035, Klimaneutralitätsjahr
- Einem Szenario: Trendszenario, Zielszenario
- Einer Kostenperspektive: Systemsicht, Akteurssicht
CO₂-Verminderungskostenkurven: Differenzkosten der CO₂-Verminderungsmaßnahmen zur fossilen Referenz
CO₂-Verminderungskostenkurven sind vereinfachte Darstellungen, aber hilfreich für den Vergleich einzelner CO₂-Verminderungsmaßnahmen. Sie vergleichen CO₂-Einsparungen und Differenzkosten von CO₂-Verminderungsmaßnahmen (z.B. einer Wärmepumpe) gegenüber der aktuell eingesetzten fossilen Referenztechnologie (z.B. einer Gasheizung).
Die CO₂-Verminderungskosten (VK) in Euro je verminderter Tonne CO₂ berechnen sich aus der Differenz der Gesamtkosten und der CO₂-Einsparung zwischen der Maßnahme und der Referenz (Abbildung 1).
In den daraus entstehenden CO₂-Verminderungskostenkurven (Abbildung 2) stellt jedes Segment genau einen Vergleich von einer CO₂-Verminderungsmaßnahme mit der Referenztechnologie dar:
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- Die Breite des Segments entspricht dem zugehörigen CO₂-Verminderungspotenzial (in Tonnen CO₂-äq) bei Umsetzung der CO₂-Verminderungsmaßnahme.
- Die Höhe des Segments entspricht den zugehörigen CO₂-Verminderungskosten (VK) (in Euro je verminderter Tonne CO₂-äq). Positive CO₂-VK bedeuten, dass die Umsetzung der CO₂-Verminderungsmaßnahme zu zusätzlichen Kosten im Vergleich mit der Referenztechnologie führt. Bei Negativen CO₂-VK werden durch die Umsetzung hingegen sowohl Kosten als auch CO₂ gegenüber der Referenz eingespart.
Trendszenario vs. Zielszenario
Um die Erreichung der Klimaschutzziele nicht zu gefährden, ist eine aktualisierte Betrachtung der Industrietransformation unter Berücksichtigung der wahrnehmbaren Entwicklungen notwendig. So können Umsetzungslücken identifiziert und Lösungsansätze abgeleitet werden.
Dazu wird dem bisherigen Ansatz eines Zielszenarios, welches ausgehend von den Klimaschutzzielen die notwendigen Maßnahmen ableitet, ein Trendszenario gegenübergestellt (Abbildung 3). Dieses berücksichtigt existierende Rahmenbedingungen und bewertet die notwendigen Transformationsmaßnahmen neu. Die beiden Szenarien unterscheiden sich beispielsweise hinsichtlich der Entwicklung von Energieträger- und CO₂-Preisen.
Beide Szenarien erreichen die finalen Klimaziele unter der Annahme, dass ggf. geringfügig verbliebende Emissionen im Zieljahr durch den Einsatz staatlich subventionierter synthetischer Brennstoffe, Wasserstoff, CCS oder natürlicher Senken kompensiert werden.
Systemsicht vs. Akteurssicht
Neben der Unterscheidung zweier übergeordneter Szenarien muss innerhalb dieser Szenarien zwischen den beiden Sichtweisen der Systemsicht (quasi-volkswirtschaftliche Betrachtung) und der Akteurssicht (betriebswirtschaftliche Betrachtung) unterschieden werden (Abbildung 4), um belastbare Aussagen über die Mehr- bzw. Minderkosten für die Umsetzung der CO₂-Verminderungstechnologien treffen zu können. Daraus lässt sich ableiten, ob weitere technologische Entwicklungen zur Senkung systemischer Kosten und/oder betriebswirtschaftliche Anreize erforderlich sind.
Neben Steuern, Abgaben, Umlagen für leitungsgebundene Energieträger, dem CO₂-Preis und Infrastrukturkosten bzw. Netznutzungsentgelte werden in der Kostenstruktur der betrachteten Maßnahmen Energieträgerkosten als variable OPEX berücksichtigt. Hinzu kommen fixe OPEX (z. B. Personalkosten, Instandhaltung) sowie über die jeweilige Nutzungsdauer der Anlagen und mit dem der Perspektive entsprechenden Kalkulationszinssatz annuisierte CAPEX.
Ergebnisse
Die Betrachtung ausgewählter CO₂-Verminderungskostenkurven aus den möglichen Kombinationen von Betrachtungsjahr, Kostenperspektive und übergeordnetem Szenario erlaubt die Ableitung von zehn Kernergebnissen in Bezug auf die Transformation der bayerischen Industrie zur Klimaneutralität:
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- CO₂-Neutralität in der Industrie ist möglich, aber mittelfristig höhere Energiepreise im Trendszenario hemmen notwendige Investitionen
Die Industrietransformation braucht Zielpfade zur langfristigen Orientierung, aber auch regelmäßige Anpassungen an aktuelle Trends. Im Trendszenario führt die Umsetzung der notwendigen Maßnahmen für eine CO₂-neutrale Industrie in Bayern im Zieljahr zu Mehrkosten i.H.v. 2,5 Mrd. Euro, denen Kosteneinsparungen von 0,4 Mrd. Euro gegenüberstehen. - Die Maßnahmencluster zeigen eine klare Kostenhierarchie: Effizienz und Elektrifizierung haben die niedrigsten CO₂-Verminderungskosten, Verfahrensroutenwechsel die höchsten
Die betrachteten Maßnahmen sortieren sich in der Kostenkurve nach ihrer Clusterzugehörigkeit: Von Effizienz- und Elektrifizierungsmaßnahmen (niedrige Verminderungskosten) über Brennstoffwechsel- und CO₂- Abscheidemaßnahmen bis hin zu Verfahrensroutenwechsel (hohe Verminderungskosten). - 90 Prozent des gesamten CO₂-Verminderungspotenzials können mit nur 45 Prozent der Mehrkosten erschlossen werden
Die gesamten Mehrkosten gegenüber fossilen Referenztechnologien werden durch einzelne, teure Maßnahmen getrieben. Der Großteil der CO₂-Verminderungsmaßnahmen kann mit weniger als der Hälfte der gesamten Mehrkosten umgesetzt werden und erschließt 90 Prozent des CO₂-Verminderungspotenzials der bayerischen Industrie. - Effizienzmaßnahmen sind „No-Regret“-Maßnahmen
Effizienzmaßnahmen führen zu verminderten Kosten gegenüber fossilen Referenztechnologien und vermeiden CO₂-Emissionen. Daher werden sie bereits flächendeckend umgesetzt, so dass ihr absolutes Verminderungspotenzial relativ gering ist. Dennoch stellen sie „No-Regret“-Maßnahmen dar. - Elektrifizierungsmaßnahmen – insbesondere von Nieder- und Mitteltemperaturwärme – führen trotz der veränderten Rahmenbedingungen im Trendszenario aus jeder Kostenperspektive zu verminderten Kosten
Nahezu alle Elektrifizierungsmaßnahmen stehen auch unter den Bedingungen des Trendszenarios im negativen Teil der Kostenkurve. Sie vermindern die Kosten gegenüber den Referenztechnologien und tragen den größten Anteil zum CO₂-Verminderungspotenzial bei. - Der Einsatz von grünem Wasserstoff als Brennstoff führt – trotz kostenparitätischen Brennertausch – durch die hohen Energieträgerkosten zu OPEX-Mehrkosten gegenüber der fossilen Referenz
Selbst im Zielszenario führen die hohen Kostenprognosen für grünen Wasserstoff zu positiven CO₂-Verminderungskosten. Ein Brennstoffwechsel zu „grünen Molekülen“ ist für Unternehmen in beiden Szenarien mit Mehrkosten verbunden.
- CO₂-Neutralität in der Industrie ist möglich, aber mittelfristig höhere Energiepreise im Trendszenario hemmen notwendige Investitionen
- Die CO₂-Abscheidung erreicht durch den CO₂-Preis nahezu Kostenparität mit den Referenzprozessen – jedoch erst nach Auslaufen der freien Zertifikatszuteilungen im EU-ETS I
Die Kalk- und Zementindustrie ist auf die CO₂-Abscheidung zur Emissionsverminderung angewiesen. Trotz Rückgang der freien Zuteilung im ETS-I – und damit steigenden Kosten für die Referenztechnologie ohne CO₂-Abscheidung – erreichen diese erst langfristig Kostenparität bei einem stark steigenden, absoluten Kostenniveau. - Nicht alle notwendigen Maßnahmen erreichen negative CO₂-Verminderungskosten: 50 Prozent der Maßnahmen benötigen eine OPEX-Förderung, um die Umsetzung anzureizen
Insbesondere die durch die Energieträgerpreise getriebenen OPEX verursachen die Mehrkosten der teuren CO₂-Verminderungstechnologien gegenüber der jeweiligen Referenz. Eine OPEX-Förderung könnte für ca. 50 Prozent aller Maßnahmen Anreize zur Umsetzung geben. - Das absolute Kostenniveau für die Unternehmen steigt – auch ohne Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen
Auch bei niedrigen CO₂-Verminderungskosten kann das absolute Kostenniveau im Vergleich zum Status quo steigen und Produktpreise verteuern. Das absolute Kostenniveau ist jedoch entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen in einem globalen Markt. - Notwendige Investitionen verzögern sich aktuell: Es muss jetzt Planungssicherheit geschaffen werden, um ausstehende Investitionen zu aktivieren
Die Unsicherheiten im Trendszenario führen zu verzögerten Investitionen in Transformationstechnologien. Neben finanziellen Anreizen können weitere Umsetzungspotenziale durch verlässliche regulatorische und infrastrukturelle Rahmenbedingungen erschlossen werden.
Abbildung 5 zeigt die CO₂-Verminderungskostenkurven für die bayerische Industrie im Zieljahr in den verschiedenen Szenarien und Kostenperspektiven.
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